CORBAZ, ALOÏSE
Malerin, Zeichnerin.
Aloïse, die Tochter eines Postangestellten und das siebte von acht Kindern, die alle der Musik zugewandt waren, schloss das Gymnasium 1904 in Lausanne ab und besuchte danach eine Fachschule für Schneiderei. Eigentlich wollte sie aber Sängerin werden und sie litt sehr darunter, dass dieser Traum scheiterte. Als dann auch ihre Liebe zu einem Theologiestudenten von ihrer älteren Schwester unterbunden wurde, zog sie 1911 nach Deutschland und wurde in Potsdam als Gouvernante für die Kinder des Hofkaplans von Kaiser Wilhelm II. angestellt.
Dort entwickelte Aloïse, die als grosse, elegante rothaarige Frau beschrieben wurde, eine innige Leidenschaft für den Kaiser, doch wie sie später schrieb, führten ihre religiösen Skrupel und die Heftigkeit ihrer Gefühle dazu, dass sie diese Liebe nur in ihrer Fantasie auslebte. Als Aloïse 1914 vor Kriegsausbruch in die Schweiz zurückkehrte, durchlebte sie Phasen grosser Unruhe und Anfälle von religiösem, humanitärem und antimilitaristischem Eifer, die ihre Familie dazu veranlassten, sie 1918 in die psychiatrische Anstalt von Cery in Prilly bei Lausanne einweisen zu lassen. Sie selbst scheint sich ihres Zustands bewusst gewesen zu sein: «Ich verspüre einen langsamen und sicheren körperlichen Zerfall, Fanatismus der wahnsinnigen Liebe, die mir alles aus dem Körper gerissen hat», wie sie in einem Brief an ihren Vater schrieb. In der Diagnose «Dementia praecox» (wie man die Schizophrenie damals nannte) wurden ihre Intelligenz und ihr Gedächtnis, aber auch Wahnideen, eine dissoziierte Sprache und die Verwendung von Neologismen erwähnt.
Ihr Zustand entwickelte sich zunehmend in Richtung Autismus, unterbrochen von gewalttätigen Angriffen und heftigen erotischen Avancen gegenüber ihren Ärzten. Aloïse gewöhnte sich aber nach und nach an ihr Leben in der Klinik und wurde bald nach La Rosière in Gimel verlegt, wo nur ruhige und als chronisch krank geltende Menschen betreut wurden. Dort beschäftigte sie sich mit dem Stopfen und Bügeln der Anstaltswäsche – Arbeiten, die sie mit grosser Sorgfalt ausführte und die sie ruhiger werden liessen. Vermutlich ab 1920 begann sie zunächst im Stillen mit Zeichnen und Schreiben auf gesammelten alten Papieren, was ebenfalls zu ihrer Beruhigung beitrug.
Abends hörte man sie an ihrem Fenster Opernarien singen (sie wurde denn auch «la cantatrice» genannt). Professor Hans Steck, Psychiater und später Direktor der Klinik in Cery, und die Ärztin Jacqueline Porret-Forel, die ab 1941 eine freundschaftliche Beziehung zu Aloïse aufbauen konnte, kümmerten sich darum, dass ihre Zeichnungen erhalten blieben, und versorgten sie mit Material. Die Künstlerin wandte sich immer grösseren Formaten zu und nähte dazu mehrere Blätter zusammen. 1950 entstand so das grossformatige Cloisonné de théâtre: eine 14 Meter lange Bildrolle, auf der Aloïse wie in einem Fieberwahn ihr imaginäres Liebesleben zum Ausdruck brachte.
Der Maler Jean Dubuffet besuchte sie ab 1948 mehrmals und sicherte diverse Werke für die Sammlung der Compagnie de l’Art Brut. Ab dieser Zeit fand ihr Werk eine gewisse Anerkennung, so etwa durch Ausstellungen im Foyer de l’Art Brut in Paris, die Veröffentlichung von Jacqueline Porret-Forels medizinischer Doktorarbeit Aloyse ou la peinture magique d’une schizophrène im Jahr 1952 oder auch eine Retrospektive im Musée cantonal des beaux-arts in Lausanne im Jahr 1963. Die Künstlerin starb 1964, nach einer Phase, in der ihre Kräfte zunehmend geschwunden waren.
Aloïse fand ihre Inspiration in den Illustrierten, die sie in La Rosière durchblättern konnte. Eine davon war L’Illustration: eine auflagenstarke Wochenzeitschrift, die sowohl die Stars der Gegenwart als auch die Meisterwerke der Kunstgeschichte zelebrierte. Ihre Lieblingsfiguren waren die grossen Liebenden der Geschichte, mit denen sie sich identifizierte – fürstliche Paare, legendäre Helden, Stars aus der Welt der Politik und der Bühne. Kleopatra, Marie Antoinette, Napoleon, Maria Stuart, Tosca, General Guisan, Pius XII., de Gaulle und die grossen Kunstschaffenden, Schriftsteller, Musiker und Gelehrten sind Figuren einer verrückten Oper und erleben vor traumartigen Kulissen grandiose Liebschaften.
Anachronismen, Unwahrscheinlichkeiten, veränderte Massstäbe, Metamorphosen: In dieser von den Gesetzen von Raum und Zeit befreiten Traumwelt war alles erlaubt. Aloïse kümmerte sich weder um Perspektiven noch um Volumetrie noch um Einheit von Zeit und Ort, sondern wagte «mises en abyme», Verdichtungen, Dissoziationen und bildliche Anagramme, die die imaginäre Schöpfung endlos vorantreiben. Um ihre malerische Kohärenz zu erklären, müsste man sich der Musik zuwenden – Kompositionen, die nach Tonleitern, Tonarten, Takten und Klangfarben aufgebaut sind.
Das Universum von Aloïse hatte also eine eigene, auf einer komplexen Alchemie beruhende Struktur, die von Jacqueline Porret-Forel auf bemerkenswerte Weise entschlüsselt wurde. Die ikonografischen Elemente – Personen, Tiere, Blumen und Früchte, Architekturen, Boote, Wagen und Kutschen – mögen noch so ungewöhnlich sein: Es gibt nichts, was nicht in einem wahrhaft labyrinthischen Netz von Assoziationen und Metaphern seine Begründung findet. Man kann sich allerdings fragen, ob sich die Interpretin dieser Werke nicht von der metaphorischen Verve ihrer Heldin anstecken liess und ihrerseits von Sphinxen, Elefanten oder Pfauen halluzinierte: Jacqueline Porret-Forel räumte offen ein, von der Fülle möglicher Interpretationen überwältigt geworden zu sein. Der Linguist Ferdinand de Saussure erkannte dieses Problem bereits bei den Anagrammen, die er in der lateinischen Versdichtung entdeckte oder zu entdecken glaubte: War er nicht möglicherweise versucht, diese selbst zu projizieren? Allenfalls würde es sich nicht um eine interpretative Illusion handeln, sondern um eine Besonderheit eines figurativen Dispositivs, das von Aloïse als «machine à délirer» verwendet wurde und das uns herausfordert.
Die esoterische Kosmogonie von Aloïse ist zweifellos als imaginäres Gegenstück zu einer Realität zu verstehen, die sie grausam behandelt hatte. Die inspirierte Zeichnerin betrachtete sich selbst als «schwarzen Schlamm», der noch zur «alten Naturwelt von früher» gehörte. Es ist diese reale Welt, die sie verlassen wollte, um sich in den imaginären Raum zu begeben, der als schicksalshafte Alternative und als glückselige Apokalypse betrachtet wurde. Sie empfand dieses Ausbrechen als «ricochet solaire» – als eine Art solaren Querschläger, durch den sie zu einem strahlenden, sich ins Unendliche ausdehnende Leben wiedergeboren wurde. Die Tatsache, dass Aloïse alles genommen wurde, dass sie gedemütigt und gebrochen wurde («Je déplore ma situation d’épave de la conflagration universelle»), ist vor allem auf die Stellung der Frau zu Beginn des Jahrhunderts zurückzuführen. In ihrem imaginären Königreich, in dem die Prinzgemahle nur als Staffage dienen, ist es denn auch die Frau, die als zentrale und triumphierende Figur Rache nimmt. Aloïse präsentierte sich von nun an selbst «überall auf der Welt in Bildern».
Am frühen Morgen bügelte Aloïse jeweils freiwillig die Wäsche der Krankenschwestern, als ob diese Beschäftigung sie auf das grafische Schaffen vorbereiten würde – wie ein Instrumentalist, der zur musikalischen Einstimmung einige Arpeggios spielt. Und es gibt tatsächlich eine Verbindung zwischen diesen beiden Tätigkeiten: die Sehnsucht der Künstlerin nach einer prachtvollen Welt, ohne Falten und Kehrseiten und frei von allen Widrigkeiten und Nöten. Das zeigt sich in ihrer Vorliebe für prunkvolle Figuren, die nur in der Darstellung existieren, aber auch in ihrer flächigen Malweise, die eine zweidimensionale, vor den Angriffen der Realität geschützte Welt erzeugt.
Der Blick – ein weiterer potenzieller Aggressionsfaktor, der die Künstlerin einem Angriff ihrer imaginären Kreaturen und damit einer Bedrohung aussetzen könnte – wird von ihr gebannt, indem sie die Augen ihrer Figuren wie bei einer Maske mit Blau durchtränkt. In diesen leeren Augenhöhlen kann man aber auch den Widerschein eines Firmaments oder einer Art himmlischer Weltkarte sehen, die sich den realistischen Gegebenheiten entziehen.
Jacqueline Porret-Forel erzählte, dass sich Aloïse über die Einrahmungen geärgert hatte, die – so schmal sie auch waren – zur Präsentation ihrer Werke notwendig waren. Das verwundert nicht, da ein Rahmen grundsätzlich eine Grenze zur fahlen Realität bildet und somit nicht mit Aloïses metaphorischem, sich unbegrenzt ausdehnendem schöpferischen Mechanismus vereinbar ist. Der Künstlerin waren durch das Papierformat zwar materielle Grenzen gesetzt. Sie überschritt diese aber, indem sie ganz einfach immer neue Blätter hinzufügte und zusammennähte, ohne sich um Grössenunterschiede zu kümmern. Sie zeigt uns damit auf individueller Ebene die Entstehung einer Mythologie (im Sinne von Claude Lévi-Strauss), die wie ein kohärentes symbolisches Universum aufgebaut ist.
Aloïse hatte sich also auf einen wundersamen Traum eingelassen, den Sigmund Freud als Wächter des Schlafes bezeichnete – einen Traum, den sie endlos weiterträumen wollte, indem sie unaufhörlich zeichnete und malte. Für sie war dieses wahnhafte Schaffen die einzig mögliche Alternative zu einer unerträglichen Realität. In der Not schöpfte sie das gesamte Repertoire ihrer visuellen Kultur aus, und wenn das nicht genügte, baute sie auch aus Zeitungen ausgeschnittene Bilder in ihre Werke ein, ähnlich wie ein Träumer Strassengeräusche, die seinen Schlaf stören, in sein imaginäres Szenario integriert. Dubuffet hielt Aloïse nicht für verrückt, sondern erklärte, sie habe sich «durch das Verfahren geheilt, das darin besteht, das Übel nicht mehr zu bekämpfen, sondern es ganz im Gegenteil zu kultivieren …». Um dies zu präzisieren: Sie hat sich nicht in die «Normalität» zurückentwickelt, die Psychiater für eine Heilung halten, sondern sich im Gegenteil radikalisiert. In ihrem Fall kann man von einer «erfolgreichen Schizophrenie» sprechen.
Das Werk von Aloïse wurde von Kunstkreisen, Museen und der Kunstgeschichte lange nicht beachtet. Es gehörte zu einer sogenannt «psychopathologischen» Produktion, die von der breiten Öffentlichkeit zunächst als Monstrosität und von der Psychiatrie als diagnostisches Material betrachtet wurde. Nachdem Jean Dubuffet 1948 erstmals mit den Werken von Aloïse in Berührung kam, machte er die Künstlerin zusammen mit Adolf Wölfli zur Hauptfigur der Art Brut und hob hervor, was sie von der «kulturellen Kunst» unterschied. Man muss einräumen, dass das Werk von Aloïse im institutionellen Kunstraum in gewisser Weise deplatziert war, da es sich weder für eine Ausstellungswand noch für eine Rahmung wirklich eignete.
Jean Dubuffet war übrigens gegen das Ausstellen von Art Brut-Werken in Kunstmuseen: Es hätte etwas Gönnerhaftes an sich gehabt, die Tür der Museen für die «Kunst der Verrückten» zu öffnen. Die Ausstellungen und Publikationen, die sich in den 2000er Jahren plötzlich vervielfachten, haben nichts Grundlegendes an diesem Status der «Exterritorialität» geändert. Erst als sich die Art Brut in der Kunstgeschichte als eine eigene Strömung etabliert hatte, die sich klar von der kulturellen Kunst abgrenzte, bestand keine Verwechslungsgefahr mehr: Seither kann Aloïse neben Henri Matisse oder Paul Klee ausgestellt werden, ohne ihre Zugehörigkeit zur Art Brut zu verleugnen und ohne dafür disqualifiziert zu werden. Die Retrospektive Aloïse. Le ricochet solaire, die 2012 vom Musée cantonal des beaux-arts und von der Collection de l’Art Brut in Lausanne gemeinsam ausgerichtet wurde, hat zweifellos dazu beigetragen, den Platz, den Aloïse nun in der Kunstgeschichte einnimmt, klar zu bestimmen.
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