SCHERER, HERMANN
* 8.2.1893 RÜMMINGEN, † 13.5.1927 BASEL
Bildhauer, Maler, Zeichner und Druckgrafiker.
Das Erlernen eines Handwerks war für Hermann Scherer die einzige Möglichkeit, aus der Enge seiner bäuerlichen Umgebung auszubrechen. 1907 trat der 14-jährige eine Lehre bei Steinmetzmeister Schwab in Lörrach (D) an. Nach Abschluss der Lehre hielt sich Scherer 1910–11 erstmals in Basel auf. 1912–13 begab er sich auf die Wanderschaft nach Köln und Koblenz. Die Kriegsjahre verbrachte Scherer in Basel. Er arbeitete zum Broterwerb für den Bildhauer Otto Roos, daneben entstanden die ersten eigenen Plastiken: Gipsbüsten von Freunden und Bekannten, Figurenreliefs und statuarische Einzelfiguren. 1920 hatte Scherer erstmals Gelegenheit, sein plastisches Werk in der Kunsthalle Basel auszustellen. 1918–1921 arbeitete er als Assistent von Carl Burckhardt bei der Ausführung der beiden Brunnenskulpturen Rhein und Wiese vor dem Badischen Bahnhof in Basel.
Im Frühjahr 1922 unternahm er eine längere Deutschlandreise (Stationen unter anderem in Göttingen, Berlin und Jena). Der Besuch der Retrospektive von Edvard Munch im Kunsthaus Zürich im Sommer 1922 bestärkte Scherer in seinem Entschluss, Maler zu werden. Er unternahm erste Malversuche: Bildnisse, Akte und Landschaftsdarstellungen. Im Sommer 1923 lud Ernst Ludwig Kirchner Scherer, den er kurz zuvor beim Einrichten seiner Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel kennengelernt hatte, zu einem Arbeitsaufenthalt in sein Haus In den Lärchen in Frauenkirch (bei Davos) ein. Beginn einer intensiven und für beide Seiten gleichermassen anregenden Künstlerfreundschaft, die jedoch nur bis zum Frühjahr 1925 dauern sollte. Das Jahr 1924–25 verbrachte Scherer mehrheitlich bei Kirchner in Frauenkirch. In dieser Zeit entstand eine grosse Zahl von Holzskulpturen, druckgrafischen Arbeiten (Holzschnitte und Radierungen), Bildern und Zeichnungen. In der Silvesternacht 1924–25 gründeten Scherer und seine Basler Künstlerfreunde Albert Müller und Paul Camenisch im Mendrisiotto die Künstlervereinigung Rot-Blau. An der ersten Ausstellung dieser «Pressure group» im April 1925 in der Kunsthalle Basel nahm auch Werner Neuhaus als viertes Mitglied teil. Noch vor Ausstellungsende gab Müller seinen Rücktritt aus der Vereinigung bekannt, da er sich – darin von Kirchner unterstützt, der sich kurz zuvor mit Scherer überworfen hatte – durch die grössere Zahl von Werken Scherers benachteiligt fühlte. In der Folge zerbrach die zehnjährige Freundschaft zwischen Müller und Scherer.
Während Müller den Sommer 1925 bei Kirchner in Frauenkirch verbrachte, arbeiteten Scherer, Camenisch und Neuhaus im Mendrisiotto. Während der ersten Jahreshälfte 1926 hielt sich Scherer ebenfalls grösstenteils im Tessin auf. Im März stellte sich Rot-Blau im Kunsthaus Zürich vor. Im Juni war Scherer auf Einladung von Kirchner mit einer Holzskulptur auf der Internationalen Kunstausstellung in Dresden vertreten. Gegen Ende des Sommers mehrten sich die Zeichen einer ernsthaften Erkrankung. Im Oktober wurde Scherer ins Bürgerspital Basel eingeliefert. Mitte Dezember starb Müller 29-jährig an Typhus in Obino (Tessin). Im Februar 1927 erschien in der Zeitschrift Werk Georg Schmidts grundlegender Aufsatz Rot-Blau. Ein Kapitel Basler Kunst. Am 13. Mai 1927 erlag Scherer 34-jährig den Folgen einer Streptokokken-Infektion im Basler Spital. Im September-Heft des Kunstblatts veröffentlichte Kirchner einen Nachruf auf Scherer. Die Kunsthalle Basel richtete im Februar 1928 eine grosse Gedächtnisausstellung ein.
Scherers Frühwerk (1916–18) ist geprägt von einer idealistischen Vision des Menschen. Künstlerisches Leitbild war ein strenger, etwas spröder Klassizismus, in dem die Vorbildlichkeit von Aristide Maillol nachklingt. In der Auseinandersetzung mit Ferdinand Hodlers bedeutungsschwerem Symbolismus und mit Carl Burckhardts «rein-plastischer» Form, die die Eigengesetzlichkeit des plastischen Körpers hervorhob und damit zugleich nach Autonomie vom Naturbild strebte, entwickelte Scherer in den Jahren 1919 bis 1921 seine ersten vollgültigen plastischen Konkretionen: Es sind ins Absolute gesteigerte Bilder für die Fragilität und Vergänglichkeit menschlicher Existenz.
Das Jahr 1921 brachte die entscheidende Wende: Scherer trennte sich von seinem «Arbeitgeber» Carl Burckhardt und distanzierte sich von jeder Form von Klassizismus und Idealismus. Äusserlich manifestierte sich dieser Gesinnungswandel unter anderem in der Zerstörung einer grossen Zahl von Frühwerken. Er liess nunmehr seiner «Bekenntnissubjektivität» freien Lauf und materialisierte seine inneren Bilder einer mit schicksalshaften Kräften ringenden Menschheit in konvulsiv erregten Figurengruppen. Der Höhepunkt dieser Werkphase, in der eine expressionistische Ikonografie mit einem hochexpressiven Stil eine unauflösbare Verbindung eingeht, ist das lebensgrosse Gipsmodell des Gestürzten (1922, Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kunstmuseum), das selbstbildnishafte Züge trägt.
Scherers erste Malversuche von 1922–23 orientierten sich an der lockeren Pinselschrift und am sinnlich entfesselten Farbenrausch von Munchs jüngsten Bildern. Scherer war denn auch 1923 in der Begegnung mit Kirchner vornehmlich an dessen Malerei interessiert. Er musste bald einsehen, dass einzig das unablässige Zeichnen die Grundlage bildet, um in der Flächendarstellung zu signifikanten Formfindungen zu gelangen. Erstmals konzentrierte sich Scherer nicht ausschliesslich auf den (nackten) Körper des Menschen, sondern zeichnete alles, was ihm zu Gesicht kam: Menschen, Tiere, Bäume, Häuser, Interieurs – vor allem aber die grossartigen Landschaften in Davos und im Mendrisiotto. Aus diesem Fundus schöpfte er bis im Sommer 1926 für seine kraftvollen, durch kühne Farbkontraste sich auszeichnenden Bildfindungen. Erst nachdem er das Zeichnen, Aquarellieren und Malen auf eine neue Grundlage gestellt hatte, zeigte Scherer eine innere Bereitschaft, sich mit Kirchners plastischem Konzept (Bearbeitung von Baumstämmen in Taille directe) auseinanderzusetzen.
Zu Beginn des Jahres 1924 entstanden die ersten Holzskulpturen. Die rasch erworbene Sicherheit mit dem neuen Werkstoff und den neuen Bearbeitungstechniken überrascht: In einem explosionsartigen Schaffensrausch schuf Scherer vom Frühjahr 1924 bis zum Sommer 1926 mehr als 20 Holzskulpturen und rund 100 Holzschnitte. In der Auseinandersetzung mit Kirchners plastischem Schaffen fand Scherer einen neuen Zugang zu den Anliegen, die ihn seit seinen künstlerischen Anfängen beschäftigt hatten. Seine grösstenteils farbig gefassten Holzskulpturen sind nach aussen projizierte Bilder der Angst, der Bedrohung, der Verstörtheit, der Entfremdung, aber auch des Verlangens nach Liebe und Geborgenheit.
Die Vorstellung des Lebens als eines unaufhörlichen Ringens mit Mächten, die den Menschen von innen und von aussen bedrängen, kristallisierte sich für Scherer vor allem in zwei Themen: der Beziehung zwischen Mutter und Kind und zwischen Mann und Frau. Der nackte Körper in seiner Ausgesetztheit war dabei für Scherer der Ort der Auseinandersetzung mit den erfahrenen Bedrängnissen und Ängsten. Zusammen mit Albert Müller leistete Scherer mit seinen Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen und Holzschnitten einen späten, aber eindrucksvollen Beitrag zum Schweizer Expressionismus. Mit seinen Holzskulpturen gehört Hermann Scherer neben Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck und Ernst Ludwig Kirchner zu den bedeutendsten Bildhauern des Expressionismus.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Martin Schwander, 1998, aktualisiert 2012 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4023422
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