SEGANTINI, GIOVANNI
* 15.1.1858 ARCO, † 28.9.1899 SCHAFBERG (BEI PONTRESINA)
Maler.
Giovanni Segantini wurde in Arco am nördlichen Ende des Gardasees als Sohn von Agostino Segatini und Margherita de Girardi geboren. Bereits 1865 verlor er seine Mutter, worauf ihn sein Vater zur Halbschwester Irene nach Mailand brachte. Die Erinnerungen an die ersten sieben Kindheitsjahre sind für Giovanni Segantini prägend, beschrieb er sie doch wiederholt – unter anderem in seiner Selbstbiografie – als Symbol des Wunsches nach Rückkehr zum Ursprung des Lebens und zur Mutter. 1866 starb auch sein Vater.
In Mailand verbrachte der junge Segantini eine unruhige und schwierige Jugend. Seine Halbschwester konnte tagsüber wegen ihrer Arbeitstätigkeit keine Zeit für das Kind aufwenden. Der Junge wurde mehrmals verwahrlost aufgefunden und 1870 in die Mailänder Erziehungsanstalt Riformatorio Marchiondi gebracht, wo er während drei Jahren erzogen wurde und den Beruf des Schuhmachers erlernte. Der Anstaltsgeistliche entdeckt das zeichnerische Talent Giovannis und fördert ihn.
1873–74 arbeitete er im Foto- und Drogeriegeschäft seines Halbbruders Napoleone in Borgo Valsugana (Trient). Diese Erfahrung sollte von Bedeutung sein, da Segantini Einblick in die noch junge Technik der Fotografie erhielt. Er bediente sich ihr in späteren Jahren des öfteren, indem er Fotografien zur Festhaltung von Motiven – anstelle von Skizzen – und zur Dokumentation seiner Werke herstellen liess. Zurück in Mailand, war Giovanni Segantini 1875–76 beim Dekorationsmaler Luigi Tettamanzi tätig. 1875–79 besuchte er die Kunstakademie Brera, wo er vor allem Abendkurse für Ornamentik und Tageskurse für Malerei belegte. Er befreundete sich mit einigen Mitschülern, unter anderen mit dem Möbelentwerfer Carlo Bugatti, der später sein Schwager werden sollte, und dem Maler Emilio Longoni, mit dem er lange freundschaftliche Kontakte pflegte. Segantini erhielt während seiner Ausbildung verschiedene Auszeichnungen. Am Ende seiner Akademiezeit schuf der Künstler das Gemälde Der Chor der Kirche Sant’Antonio (1879), das für den Preis des Kronprinzen Umberto vorgeschlagen und von der Società per le Belle Arti di Milano erworben wurde.
Wahrscheinlich ebenfalls 1879 lernte Segantini seinen zukünftigen Kunsthändler Vittore Grubicy de Dragon kennen, der (später zusammen mit seinem Bruder Alberto Grubicy) dem Künstler in Zukunft nicht nur eine gewisse Einkommensgarantie geben, sondern auch seine in den europäischen Kunstzentren gesammelten Erfahrungen vermitteln sollte. 1880 mietete Segantini in Mailand sein erstes Atelier, das er auch später als pied-à-terre beibehielt. Hier lernte er seine zukünftige Frau Luigia Bugatti, Bice genannt, kennen, die Schwester des Studienfreundes Carlo. Mit ihr zog er 1881 nach Pusiano (Brianza, nördlich von Mailand), wo er mit Emilio Longoni im gleichen Haus wohnte und arbeitete. Die anschliessenden Jahre verbrachten die Segantinis in den nahegelegenen Dörfern Carella und Corneno. 1882 wurde der Sohn Gottardo, 1883 Alberto, 1885 Mario und 1886 die Tochter Bianca geboren.
Im Sommer 1886 zog die Familie Segantini nach Savognin, wo sich der Künstler, seinem Wunsch entsprechend, der Darstellung der Natur im klaren Alpenlicht widmen konnte. Vittore Grubicy hielt sich den ganzen darauf folgenden Winter (November 1886 – März 1887) bei den Segantinis auf und führte mit dem Maler grundlegende Diskussionen über Kunst. Barbara Uffer, Baba genannt, wurde als Haushalthilfe angestellt und stand Segantini oft Modell.
1894 zog die Familie nach Maloja ins Chalet Kuoni, das heutige Atelier Segantini. In dieser Landschaft am Passübergang zwischen dem Engadiner Hochplateau und dem südlich geprägten Bergell boten sich Segantini nicht nur anregende hochalpine Naturszenerien, sondern auch Kontakte zu Leuten aus der ganzen Welt, die sich im Zenith der Engadiner Tourismusentwicklung dort aufhielten. Er lernte neben einheimischen Persönlichkeiten wie dem Arzt Oskar Bernhard, der später das Segantini-Museum mitbegründete, Journalisten und Kunstkritiker von überall her kennen. Über das Kulturgeschehen in Europa informierte sich Segantini durch Gespräche, mittels abonnierten Kulturzeitschriften (aus Italien, Deutschland, Österreich und England) und Büchern. Für Reisen wendete der Künstler nur die allernotwendigste Zeit auf, weil ihn seine arbeitsintensive Maltechnik des Divisionismus und die Pleinairmalerei äusserst stark in Anspruch nahmen.
Die wichtigste Künstlerbekanntschaft der Engadiner Zeit war diejenige mit dem Bergeller Maler Giovanni Giacometti. Der zehn Jahre jüngere Künstler war nicht nur sein Schüler, sondern auch eine wichtige Verbindungsperson zur Schweizer Kunst, da er seinem Lehrer von den Ausstellungen und Gesprächen mit Kollegen, unter anderen Ferdinand Hodler und Cuno Amiet, erzählte. Die kalten Monate verbrachte Giovanni Segantini mit seiner Familie im milderen Dorf Soglio, das schon damals von zahlreichen Kulturschaffenden und Kunstinteressierten besucht wurde.
In seinen letzten Lebensjahren hatte sich Segantinis Ruhm durch zahlreiche Ausstellungen, Auszeichnungen und dank Ankäufen von Werken durch wichtige Museen in ganz Europa gefestigt. Während er sein grossformatiges Triptychon Werden, Sein, Vergehen (1896–99, St. Moritz, Segantini-Museum, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung) fertigstellen wollte, wurde der an einer Bauchfellentzündung leidende Künstler bei seiner Arbeit auf dem Schafberg oberhalb von Pontresina vom Tod überrascht. Das nicht ganz vollendete Triptychon, das umfangreichste Werk Segantinis, wurde an der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 im italienischen Pavillon gezeigt. Das Werk des Künstlers wurde in Zeitschriftenartikeln schon zu Lebzeiten in ganz Europa rezipiert: Die erste Auflage von Franz Servaes’ Publikation über den Künstler erschien bereits 1902, 1912 veröffentlichte Segantinis Tochter Bianca die Schriften und Briefe ihres Vaters, und ein Jahr später publizierte Gottardo Segantini die erste Ausgabe seines mehrfach aufgelegten Werkes.
Giovanni Segantinis Werk lässt sich gemäss den Wohnorten des Künstlers in drei Schaffensperioden einteilen. Die früheste ist die italienische Schaffensperiode, die die Zeit, in der er in Mailand und in der Brianza wohnte, umfasst (1875– 1886). Die Gemälde jener ersten Epoche sind vom Stil der Mailänder Akademie geprägt und entsprechen dem damaligen Geschmack des oberitalienischen Grossbürgertums. Die Farbgebung ist zurückhaltend, und thematisch herrschen Porträts, Stillleben und ländliche Genrebilder mit Hirtenidyllen in der Art der französischen Salonmalerei vor. Im Frühwerk bildet Segantini einige wichtige Elemente aus, die für sein darauf folgendes Schaffen kennzeichnend werden: die Beobachtung des Menschen im Verhältnis zu seiner Umgebung, was auf ein Erkennen existenzieller Werte hinführt, und die Darstellung des Lichtes in der Malerei (Segnung der Schafe, um 1884, St. Moritz, Segantini-Museum; An der Stange, 1886, Rom, Galleria Nazionale d’Arte Moderna).
Die zweite Schaffensperiode entspricht der Zeit, in welcher Giovanni Segantini in Savognin und Umgebung malte. Der neue Aufenthaltsort mit der klaren Atmosphäre der Alpen, die Distanz zur Stadt Mailand mit dem vorherrschenden Akademismus und die Auseinandersetzungen mit dem europäischen Kunstgeschehen in den Gesprächen mit Vittore Grubicy forderten den Künstler zu neuen Leistungen heraus. Vittore Grubicy veranlasste Segantini, die zweite Fassung des berühmten Bildes Ave Maria bei der Überfahrt (1886, St. Gallen, Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung) zu malen. Die Palette wird farbenfroh, und die Bilder verlieren das idyllische Pathos zugunsten einer tiefgründigeren Bildaussage. Thematisch gewinnt die Landschaft gegenüber dem Menschen an Bedeutung. Neben realistischen Naturszenen entstehen vom Jugendstil beeinflusste Werke mit allegorischem Gehalt oder symbolistisch geprägte Landschaften (Die bösen Mütter, 1894, Wien, Kunsthistorisches Museum; Heuernte, 1889/1898, St. Moritz, Segantini-Museum, Leihgabe der Gemeinde St. Moritz).
Segantini studierte die Farbtheorien der Spätimpressionisten Frankreichs und entwickelte sich zum wichtigsten Vertreter des Divisionismus. Er bemalte seine grossformatigen Leinwände im Freien vor der Landschaft, um das Erlebnis in der Natur möglichst genau empfinden und wiedergeben zu können. Die Gemälde der dritten Schaffensperiode, die während des Aufenthaltes in Maloja, Soglio und Umgebung entstanden, zeichnen sich durch einen weiteren Entwicklungsschritt aus. Giovanni Segantini malte sein grösstes Werk, das Alpentriptychon Werden, Sein, Vergehen, worin die Bemühung des Malers erkennbar ist, höchsten Ansprüchen hinsichtlich maltechnischer Perfektion, aber auch philosophisch-literarischen Gehalts gerecht zu werden. Das Alpentriptychon war aus dem noch umfangreicheren, nicht realisierten Projekt des Engadiner Panoramas für die Weltausstellung des Jahres 1900 in Paris entstanden. Segantinis zeichnerisches Werk, mehrheitlich in Kohle-, Farb- und Bleistift oder Pastellkreide gehalten, fand bis in die 1970-er Jahre wenig Beachtung. Meist handelte es sich um Nachzeichnungen der eigenen Gemälde in divisionistischer Manier, die oft als blosse Reproduktionen oder Kopien taxiert wurden. Die Papierarbeiten sind jedoch nicht nur dokumentarisch, sondern auch künstlerisch von Bedeutung. Oft schuf Segantini mehrere Nachzeichnungen eines Bildes, wobei durch unterschiedliche Abwandlung der Vorlage neue Bildideen entstanden. So erreichte Segantini in gewisser Weise eine Vervollkommnung beziehungsweise Vertiefung des angestrebten Bildausdrucks und schuf Werke, die als eigenständige Arbeiten betrachtet werden müssen. Im Gedenken an Segantini wurde 1908 in St. Moritz das Segantini Museum errichtet, wo heute das Triptychon und rund 50 weitere Werke Segantinis zu sehen sind. Das in Anlehnung an Segantinis Panorama-Projekt entstandene Museum nimmt auf den Todesort Segantinis Bezug, indem das Gebäude genau dort errichtet wurde, wo – vom Schafberg aus gesehen und im Bild Sein mit ebendieser Aussicht dargestellt – sich die Strahlen der gerade untergehenden Sonne schneiden.
Segantinis Werk ist Ausdruck eines Spannungsfeldes zwischen der Tradition des 19. und dem Aufbruch des 20. Jahrhunderts, menschlicher Sehnsucht und Realität, mediterraner und mitteleuropäischer Kultur. Giovanni Segantini ist darum bis in die heutige Zeit ein vieldiskutierter und oft kopierter Maler geblieben. Sein Schaffen prägte oder beschäftigte zahlreiche Künstler, vor allem solche, die Segantini noch gekannt haben (unter anderen Giovanni Giacometti, Segantinis Söhne Gottardo und Mario und Peter Robert Berry) wie auch spätere Künstlergenerationen (zum Beispiel Joseph Beuys).
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Dora Lardelli, 1998, aktualisiert 2011 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4000079
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