LOHSE, RICHARD PAUL
* 13.9.1902 ZÜRICH, † 16.9.1988 ZÜRICH
Maler, Grafiker und Autor.
Der Vater Paul Richard kommt aus Deutschland. Er stirbt bereits 1915, mitten im Ersten Weltkrieg. Seine Frau, die als Maria Magdalena Krieg in Bern geboren ist, und der 14-jährige Richard geraten in bittere Armut. Er behält einen wachen Blick für soziale Unterschiede und verliert nie seinen Bildungshunger. Nach zahlreichen Gelegenheitsarbeiten tritt er mit 16 Jahren in die Werbeagentur Max Dalang ein, um Reklamezeichner zu werden. Er trifft dort Anton Stankowski, der als Fotograf angestellt ist. Für Lohse wird die pragmatische Seite der Werbegrafik wichtig, ihre Disziplin, Präzision, ihr Setzen auf zeichenhafte Kürze und Direktheit der Wirkung. Zum Alltag des Grafikers gehört auch der Farbdruck über Gelb, Cyan, Magenta und Schwarz auf weissem Grund. 1930 verlässt Lohse das Atelier, macht aber grafische Arbeiten bis in die 1960er Jahre. Konstant bleibt dabei sein soziales Engagement. Wie viele revolutionäre Künstler vor ihm misst er der Grafik den gleichen Rang zu wie anderen Kunstgattungen, weil die Gestaltung der menschlichen Welt ein unteilbarer Auftrag ist. Ihn zu erfüllen, verfolgt Lohse zukunftsweisende gesellschaftliche Ideen.
1947–1956 redigiert und gestaltet er die Zeitschrift Bauen + Wohnen, bald darauf ist er mitverantwortlich für die in Zürich erscheinende Neue Grafik. Er macht Bekanntschaft mit Augusto Giacometti, Jean Arp, Georges Vantongerloo (1886–1965) und Le Corbusier; Freundschaften mit Antoine Pevsner (1884–1962) und Friedrich Vordemberge-Gildewart (1899–1962). 1934 beginnen für Lohse turbulente Jahre im Zett-Haus, einer Ikone des Neuen Bauens in Zürich. Hier begegnet er Irmgard Burchard, mit der er kurz verheiratet ist. Für ihre gemeinsam geplante Londoner Ausstellung 20th Century German Art (1938) sucht er bei Ernst Ludwig Kirchner im Schweizer Exil Bilder aus. Sein politisches Engagement macht ihn zum Grenzgänger in gefährlichen Missionen und führt ihn in den Widerstand. Hier lernt er seine Lebensgefährtin Ida Alis Dürner (1907–1989) kennen, die aus Uttwil am Bodensee stammt. 1944 wird die Tochter Johanna geboren.
Intensiver Umgang mit gleichgesinnten Künstlern in Zürich. Gemeinsam mit Leo Leuppi gründet Lohse 1937 die Allianz, Vereinigung moderner Schweizer Künstler; Genese der eigenen Position innerhalb der konkreten Kunst aus unterschiedlichen Wurzeln, die im ersten Jahrhundertdrittel liegen, vor allem aus der Analyse konstruktivistischer Kunstrichtungen in Russland und der niederländischen De-Stijl-Bewegung. Der kritische Nachvollzug dieser Positionen bereitet das vor, was Lohse anstrebt: eine sinnfällige, logisch schlüssige Konzeption, in der auch Prinzipien der Technologie verarbeitet sind. Unbeirrbar verfolgt er ferner sein Ziel, nicht-hierarchische, also egalitäre Ordnungen zu schaffen. Raumfaktoren sowie bevorzugte Platzierungen müssen entfallen, und überhaupt ausgeschlossen wird das Schema von Figur und Grund. Die neuen tragenden Ideen der Anonymität, Elementierung, Kombinatorik, Flexibilität und Farbdynamik breitet er Anfang der 1940er Jahre in farbigen Zeichnungen anschaulich vor sich aus. Später erst werden sie als Öl- oder Acrylbilder realisiert. Diesen Abstand zwischen Entwurf und Ausführung bezeichnen die beiden Jahreszahlen im Bildtitel.
Ab 1943 schreibt Lohse in den Entwicklungslinien die gedankliche Reflexion seines Werkes fort. Neben den zentralen Sätzen, vor allem zu seiner systematisch-konstruktiven Kunst, enthalten sie Thesen zu Kunst- und Zeitgeschichte, Architektur und Philosophie. Vehement vertritt er in Wort und Schrift die gesellschaftskritische und für die Demokratie vorbildliche Funktion seiner Kunst, bleibt trotz scharfer Abgrenzung der eigenen Position aufgeschlossen für fremde künstlerische Prozesse. Doch unter den Zürcher Konkreten verändert zunehmende Konkurrenz die alten persönlichen Beziehungen. Freundschaft oder Rivalität machen Lohse aber nicht blind für künstlerische Qualitäten. Sein Erfolg setzt in Mondrians Heimat ein, als Willem Sandberg ihn 1961 im Stedelijk Museum, Amsterdam, ausstellt; 1971 wird ihm der Sikkens-Preis verliehen. 70-jährig vertritt Lohse die Schweiz an der Biennale di Venezia und erhält 1973 den Kunstpreis der Stadt Zürich. Das Preisgeld stiftet er zum Ankauf von Werken jüngerer Kollegen. Monografische Bücher werden publiziert. Eigene Textbeiträge, kritische Wortmeldungen sind in vielen Publikationen zu finden.
Die ständige Präsenz von Werk und Person hat enorme Ausstrahlung auf das Kunstgeschehen dieser Zeit. Nach Kräften fördert er konstruktive Talente. Lohse ist ein gesuchter Berater und Juror, obwohl ihm selbst bis auf die späte Wandgestaltung Farbkomplementäre Reihen, 1982, für das Staatsarchiv des Kantons Zürich, öffentliche Aufträge vorenthalten bleiben. Er erfährt jedoch zahlreiche Ehrungen. Auf der documenta 7 in Kassel 1982 bringen drei grosse, horizontale serielle Reihenthemen weltweite Beachtung. 1988 wird Lohse vom französischen Staat beauftragt, als Hommage an den 200. Jahrestag der Französischen Revolution in Grenoble ein Werk zu schaffen. Das Bild ist eine anschauliche Integration seiner künstlerischen, moralischen und philosophischen Persönlichkeit.
Der junge Lohse will Maler werden, doch sein Wunsch, in Paris zu studieren, erfüllt sich nicht. Als Autodidakt beschäftigt er sich mit kubistischen und expressiven Vorbildern. Die Kaffeekanne von 1925 steht dafür als Beispiel. In den 1930er Jahren äussert sich ein Bewegungsdrang in den Kurvaturen des Vogelflug-Motivs und in scharfwinkligen Formationen. Mit 40 Jahren leitet Lohse durch methodisch klare Schritte die Vereinheitlichung von Bildmittel, Bildstruktur und Bildformat ein. Über Gruppenordnungen, rhythmisch gereihte und geteilte Linienelemente gelangt er konsequent zum Farbquadrat, in dem er die Identität von Bildfeld und Element findet. Aufgehoben ist damit die Dualität von Form und Farbe. Dieses Standardelement erlaubt es, Gruppen- und Reihen-Themen durch Addition zu formieren und erst durch deren schlüssigen Verbund Grösse und Proportion eines Bildes zu definieren.
Das Mittel aller visuellen Unterscheidungen im Bildfeld ist die Farbe. Lohse ist anfangs beeindruckt von den elementaren Farben der Konstruktivisten. Doch zunehmend gründet er seine Malerei auf dem «unlimitierten Spektrum». Als Band oder Ring angelegt, kann diese chromatische Reihe die neuen Bildordnungen unerschöpflich thematisieren. Modulare und serielle Ordnungen entfalten sich schwerpunktmässig, je nach ihrer Strukturierung zwischen definiertem Farbelement und Zahl, zwischen Anschauung und Vorstellung. Bei modularen Bildern ordnet Lohse die Elemente einzeln oder gruppenweise durch Farben, meist in klarem Kontrast, oft in komplementären Stellungen. Durch Spiegeln, Drehen, Verschränken, Kreuzen verspannt er ihre Gefügeordnungen. Die seriellen Basisthemen dagegen bilden chromatische Reihen von sechs bis 30 Schritten. Sie verlaufen zyklisch oder doppelzyklisch als ganze Farbketten, als Teilketten, gleichmässig oder progressiv. Die Fantasie möchte den kontinuierlichen oder in Sequenzen geordneten Reihen auf ihren geraden Bahnen auch über die Bildgrenzen hinaus folgen. Sie könnte die Rhythmen aber auch in sich zirkulieren lassen, da gegenüberliegende Ränder aneinander anschliessen. Lohse nennt seine erweiterbaren Bildordnungen «limitiert-unlimitierte Systeme». Bilder, die das egalitäre Konzept ganz erfüllen, basieren auf der «Mengengleichheit» der ausgewählten Farben. Ihre kongruenten Flächenanteile bauen ein «energie-gleiches» Bildfeld auf, dem sich das Auge ohne kompositorische Führung widmen kann.
Weniger der rationalen Kontrolle im Bildprozess unterworfen, wählt Lohse die Farborte mit Hilfe einer Permutation. Zwölf vertikale und zwölf horizontale Progressionen (1943–1944) lassen erstmals jede Farbe in jeder Reihe nur einmal zu. So erhalten alle Elemente gleicher Farbe überraschende, «unwahrscheinliche» Nachbarn. Ihre Konstellationen erscheinen wie Sterngruppen. Ausserdem verschiebt Lohse die Phasen nebeneinander verlaufender Farbketten um mindestens zwei Glieder. So berühren oder verbinden sich niemals gleiche Farben; jedes Element bewahrt seinen Rang im Bildfeld. Dagegen trennen sich die Farbketten quer zu ihrem Verlauf, und von der jeweiligen Stärke der seitlich gerichteten Kontraste wird ihr optisches Vor- und Rückschwingen mitbestimmt. Zwischen Kontinuität und Komplementarität (Gegenfarbigkeit) der Farbe vollzieht sich, in unterschiedlichsten Graden, das wechselseitige Anziehen und Abstossen der Elemente nach allen Seiten. Diese Farbdynamik wird vornehmlich durch helles Gelb ausgelöst, das weit hinein wirkt ins Grün und Rot und dessen Impuls von einem Violett erwidert wird. Bevorzugt überspannen diagonal gesetzte Farbkomplementäre die zentrifugalen beziehungsweise zentripetalen Verlaufsstrukturen. Doch die hochgesättigten spektralen Farben vereinigen sich zu einer Gesamtwirkung. Mehrfach ohne sichtbare Faktur aufgetragen, erscheinen sie leuchtend, ja lichthaft. Wohl fördern wärmere Farbelemente neben kälteren die paradox-elastischen Raumwirkungen, die sich in der Bildfläche ereignen, da Zonen wechselnder Temperatur unsere Distanzempfindungen spürbar beeinflussen.
Frühe serielle Bildordnungen können «dramatisch» wirken, weil vom Hell-Dunkel bestimmte Reihen gegeneinander verspringen und die Bildfläche kräftig bewegen. Themen aber, die Intensitätsstufen mit chromatischen Reihen verbinden und dem tastenden Auge dadurch einen grösseren Spielraum innerhalb der Bild-Dimensionen bieten, treten in der Werkentwicklung zurück. Immer mehr strahlen die Bilder aufgrund ihrer im Ganzen ausgeglichenen Farbintensität. Spezielle psychologische Deutungen bleiben unerheblich angesichts der vitalen, «optimistischen» Wirkung, die von dieser Malerei ausgeht. Dabei können sensible Augen wahrnehmen, wie variabel und souverän Lohse gesättigte Farben behandelt, sowohl in starken wie auch zarten Relationen. Seine methodische Flexibilität hat einige hundert modulare und serielle Ordnungen hervorgebracht, die jene Freiheit spüren lassen, die kämpferischer Auseinandersetzung und selbstkritischer Arbeit zu verdanken ist.
Um 1980 werden die Grenzen zwischen beiden Werkbereichen unauffällig geöffnet und ihre Themen zu komplexeren Bildlösungen verknüpft. Immer weiter folgt Lohse der Herausforderung, modular definierte, also endliche Einheiten einzulassen in grenzenlos erweiterbare Systemzusammenhänge, die unser Vorstellungsvermögen überschreiten. Ebenso reflektiert er in seiner gesellschaftlichen Utopie das Problem des belanglosen Einzelnen gegenüber der «grossen Zahl». In der Durchdringung von Gruppe und Serie versucht er nun, das limitierte Element im unlimitierten Systemganzen zweifach zu fassen und somit sinnfälliger im Bild darzustellen. Denn treffender als Worte kann ein Bild, in dem das individuelle Element seine ordnende Struktur gleichzeitig bedingt, als «offenes Geheimnis» wirken.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Hans Joachim Albrecht, 1998, aktualisiert 2010 ;https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4000062
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