HUTTER, SCHANG
* 11.8.1934 Solothurn, † 14.6.2021 Solothurn
Bildhauer und Plastiker.
1950–54 Lehre im elterlichen Steinmetzbetrieb in Solothurn; parallel dazu Besuch der Kunstgewerbeschule Bern bei Gottfried Keller und Eugen Jordi. 1954–1961 Studium an der Akademie der Bildenden Künste München bei Josef Henselmann. Seit 1956 Freundschaft mit dem Schriftsteller Peter Bichsel. 1958, 1960 und 1974 Eidgenössisches Kunststipendium; 1959 Stipendium des Freistaates Bayern. 1961 Rückkehr nach Solothurn, von 1962 bis 1981 Atelier in der Klosterkirche St. Josef. 1969–1970 polnisches Staatsstipendium mit sechsmonatigem Aufenthalt in Warschau; Erlernen der Lithografie. 1971 Eintritt in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz. 1975 Preis der Biennale Florenz. 1982 bis 1985 lebt und arbeitet Hutter in Hamburg, von 1985 bis 1987 Aufenthalt in Berlin; Atelier in Berlin bis 1991. 1988–89 Gastprofessur an der Akademie der Bildenden Künste München. 1991 Ständeratskandidat der SP Kanton Solothurn. 1998 sorgt Hutter mit der ursprünglich für den Skulpturenweg Grauholz 98 geschaffenen Stahlplastik Shoah für grosse Medienresonanz und politische Diskussionen, indem er das Werk vor dem Hauptportal des Bundeshauses und später auf dem Paradeplatz in Zürich aufstellt. Seit 1999 Atelier und Wohnsitz in Genua und in Derendingen.
Die zahlreichen Auszeichnungen sowie die Lebensstationen von Schang Hutter könnten dazu verleiten, von einer Bilderbuchkarriere zu sprechen. Doch Schang Hutters «künstlerische Tätigkeit ist lebensnotwendiges Ventil» (Siegfried Salzmann); damit verbunden ist eine mühsame Entwicklung, in der Hutter lernt, sich als Künstler zu behaupten und eine eigene bildhauerische Sprache zu finden. Unterstützt von seinem Lehrer Gottfried Keller reift der Wunsch, Künstler zu werden. Hutter beginnt sein Studium 1954 in München. Die sichtbaren Spuren des Krieges und der Kontakt zu Kommilitonen und Personen, die aus dem Krieg oder der Gefangenschaft kommen und ihre Erlebnisse schildern, prägen ihn nachhaltig. Stilistisch richtungsweisend werden Wilhelm Lehmbruck und Alberto Giacometti. Der Eindruck dieser beiden Künstler und persönliches Mitgefühl summieren sich im Tadeusz-Kosciuszko-Denkmal (Brunnenfigur, 1963–64, Solothurn, Amthausplatz) und im Sterbenden KZ-Häftling (1964–1972).
Diese Plastik, die durch ein Foto eines den alliierten Befreiern entgegenkriechenden und dabei sterbenden Gefangenen angeregt wurde, ist eines der wenigen Denkmäler für die Opfer der Konzentrationslager in der europäischen Plastik. Die Arbeit am Porträt verläuft von Beginn an eigenständiger als bei den Ganzfiguren. Ausgehend von in München entstandenen Gipsplastiken eines Mädchens entwickelt sich über das Bildnis Beate II (1963) ein lapidar-zeichenhafter Kopftypus. Er ist gekennzeichnet durch eine pointiert spitze Nase und ein markantes Grinsen. Das Hinzufügen eines adäquaten Körpers erweist sich als schwierig. Ende der 1960er-Jahre entdeckt Hutter den Kopf als statischen Fixpunkt und bestimmt den Aufbau der Figur vom Kopf her. Durch die vom Körper «wegfliegenden», extrem dünnen Beinchen wirken die Figuren instabil, fragil und schwerelos. Diesen Eindruck unterstützt der scheinbar armlose, entleiblichte Oberkörper. Bezüge zu Lehmbruck und Giacometti sind ebenso offenkundig wie Anregungen von Marionetten und spätmittelalterlichen Gewandfiguren. Die Erfindung seiner einprägsamen Kunstfigur verleiht Schang Hutter langgesuchtes Selbstvertrauen. Ausdruck hierfür ist auch die Umbenennung in Schang, der der schweizerischen Mundart phonetisch abgeleiteten Schreibweise von Jean, seinem eigentlichen Namen und dem seines Vaters.
Während Schang Hutter in den 1960er-Jahren mit Gips, Marmor, Eisen, Stahl oder Chrom experimentiert, wird es für seine weitere Entwicklung wichtig, dass er in Pappel- und Tannenholz das für seine Arbeitsweise geeignete Material findet. Holz ist vielseitig verwendbar, erlaubt einen direkten Zugriff und eine schnelle Produktion. Eine umgebaute exzentrische Kopierdrehbank ermöglicht es ihm, effizient zu arbeiten und nach einer Mutterfigur Objekte in Serie herzustellen. Durch das Drechseln erreicht Hutter Einfachheit und Anonymität der Figuren. Die Grundform des Stammes ist für das kegelähnliche Erscheinungsbild verantwortlich, allein Maserung und Wuchs des Holzes sorgen für Unterschiede. Besonderes Merkmal der Skulpturen ist der für die maschinelle Bearbeitung notwendige Stumpf über dem Kopf. Er evoziert den Eindruck von Marionetten.
Hutter präsentiert die bis zu sechzig Objekte umfassenden Figurengruppen in zwei formal und inhaltlich abweichenden Spielarten. Die turmartigen, sich nach oben verjüngenden Gruppen bündelt er mit Eisenketten oder Eisenbändern, während die horizontal angeordneten, knapp lebensgrossen Skulpturen begehbare Ensembles bilden: Wird hier auf Dynamisierungs- und Isolationsprozesse angespielt, geht es dort um Symbole für Machtausübung und Willkür. Eine Wende markieren Ende der 1970er-Jahre die Abkehr von Statik und Strenge und ein Aufgreifen von Körpersprache und Bewegung. Eine wichtige Arbeit ist Vertschaupet (Biel, Bahnhofplatz, 1979–1980), an sie schliessen ab 1982 die Veitstänze an. Beide Komplexe werden in Lithografien und Zeichnungen vorbereitet. Die Titel stammen von Hutter, sind also ernst zu nehmen; das Mundartwort «vertschaupet» bedeutet «zertreten».
Den Veitstänzen liegt eine Fotografie zugrunde, die Hutter aus Studientagen (1956) kennt: Sie zeigt ungarische Volkspolizisten, die von Aufständischen erschossen werden und zusammenbrechen. So erklärt sich die Betonung der Arme und abgewinkelten Beine durch extreme Überlängung oder Bemalung. Hutter thematisiert in den Veitstänzen äusserlich sichtbare innere Zustände als Reaktionen auf private, gesellschaftliche oder politische Ereignisse. Für ihn sind die beiden gestischen Grundformen Abwehr und Angriff Metaphern für Leid und Macht. In den seit etwa 1990 entstehenden Arbeiten löst sich die Gestik und Bewegung in Figurentänzen auf. Bereits Mitte der 1980er-Jahre haben Mondsichelköpfe den Kopftyp der 1960er- und 1970er-Jahre ersetzt. In der Gegenwart dominiert zunehmend spielerische Gelöstheit, und die Rhythmik der Bewegung scheint sich formal zu verselbständigen.
In den ab 2003 entstehenden, teilweise bemalten Köpfen in Gips und Holz lässt sich ein Rückbezug zu früheren Arbeiten des Künstlers beobachten, in denen er sich mit der klassischen Bildhauerei, vor allem mit Karl Geiser, auseinandersetzt. Seit der Akademiezeit begleitet die Zeichnung als Skizze das bildhauerische Werk, ab etwa 1980 behauptet sie sich als eigenständiges Medium. Die Zeichnung bietet Raum für formale und farbige Experimente, die Lithografie erlaubt eine weite Verbreitung. Die Durchdringung von Skulptur, Grafik und mitunter Malerei ist eng: So löst sich etwa im Veitstanz Nr. 8 (1983) eine Holzfigur aus einer auf Leinwand gemalten Figurengruppe, und in anderen Werken findet die Bewegung der Skulpturen ein Echo auf Bildern.
Stets war Schang Hutter nicht nur Einzelgänger, sondern Aussenseiter, ob als Akademiestudent in München, als Künstler in Solothurn oder als aktiver Politiker. Die formale Entwicklung verläuft von Gewand- über Stamm- bis zu Bretterfiguren; inhaltlich dient die Kunst bis in die 1960er- und frühen 1970er-Jahre der eigenen Lebenshilfe, ehe sich Hutter gesellschaftlich engagiert und mit den Bedrängten und Unterdrückten solidarisiert. Die Haltung seiner Figuren ist ambivalent: Sie sind isoliert und haben ihre Sprache verloren. Gleichzeitig stellen sie sich dem Dasein, lachen oder tanzen. Schang Hutters Werk stört, provoziert, ruft zur Wachsamkeit auf und setzt dadurch ebenso emotionale Prozesse in Gang wie eine Reflexion über die Ursachen dessen, was es vor Augen führt.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Marc Gundel, 2006, aktualisiert 2014 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4000807
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