WÖLFLI, ADOLF
* 29.2.1864 BOWIL, † 6.11.1930 BERN
Maler und Zeichner.
Adolf Wölfli wurde in ärmlichen Verhältnissen als jüngstes von sieben Kindern geboren. Der Vater war Steinhauer, die Mutter Wäscherin. Nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, wurde Wölfli 1872 im Alter von acht Jahren mit der kranken Mutter in die Heimatgemeinde Schangnau gebracht. Dort starb die Mutter und Wölflis entbehrungsreiches Schicksal als Verdingbub begann. Von 1880 bis 1890 war er Knecht und Handlanger in Bern und Umgebung. 1883–1884 absolvierte er die Infanterie-Rekrutenschule in Luzern. Wegen versuchter Notzucht an zwei Mädchen wurde er 1890 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach einem erneuten Notzuchtversuch erfolgte 1895 die Einweisung in die Bernische Kantonale Irren-, Heil- und Pflegeanstalt Waldau, wo Dementia paranoides diagnostiziert wurde. Wölfli blieb bis zu seinem Tod in der Waldau bei Bern.
Das Werk von Adolf Wölfli entstand erst nach Ausbruch seiner Erkrankung während seines über 30-jährigen Aufenthalts in der Waldau (1895–1930). Gefördert wurde er ab 1907 durch den dort tätigen Arzt und Psychiater Walter Morgenthaler. 1921 veröffentlichte Morgenthaler eine auf dem Gebiet der Psychopathologie und der Kunst wegweisende Monografie (Ein Geisteskranker als Künstler). Im selben Jahr, anlässlich der Publikation von Morgenthalers Buch, werden erstmals Wölflis Zeichnungen in Buchhandlungen in Bern, Basel und Zürich ausgestellt. Wölflis zeichnerisches, dichterisches und musikalisches Œuvre fasziniert sowohl durch seine Vielfalt, seine Verwebung von Schrift, Zeichnungen, Mathematik und Musik sowie durch seinen monumentalen Umfang. Sein Werk besteht aus zwei Teilen: Die Einblatt-Zeichnungen (1904–1906 frühe Bleistiftzeichnungen und 1916–1930 farbige Zeichnungen, auch «Brotkunst» genannt) und das erzählerische Werk, 1908–1930 (über 25000 Seiten mit Prosatexten, Gedichten, musikalischen Kompositionen und Illustrationen).
Die etwas mehr als 50 heute bekannten frühen Bleistiftzeichnungen von 1904–1906 stellen innerhalb des Gesamtwerkes eine in sich geschlossene Gruppe dar, den bildnerischen Grundstein, auf dem sich Wölflis Kunst und sein unverwechselbar
es Formenvokabular entwickelte. Wölfli nannte diese frühen Zeichnungen Tonstücke und signierte sie mit «Componist». Die Zeichnungen haben vorwiegend einen symmetrischen Aufbau und weisen symbolische und archetypische Formen – Kreis, Oval, Eiform, Stern, Schmetterling, Becher – auf. Das erzählerische Werk beginnt 1908 mit der imaginären Lebensgeschichte von Adolf Wölfli (1908–1912). Mit der Ausweitung dieser Lebensgeschichte ins Mythische entwickelt sich eine fantastische Erzählung von Reisen und Erlebnissen im Universum (1912–1926). Im Folgenden geht die Erzählung in ein umfangreiches Besingen und Zelebrieren der neuen Skt. Adolf-Schöpfung (1917–1928) über. Sie endet mit dem Trauer-Marsch (1928–1930), einem requiemähnlichen Finale, das von der strengen Rhythmik von Wortfolgen und Zahlenreihungen bestimmt wird. Ab 1916 signiert Wölfli seine Werke mit «Skt. Adolf II.».
Wölflis schriftlicher Nachlass umfasst 45 grosse Bände mit über 25’000 dicht beschriebenen Seiten, mehr als 1600 Illustrationen und über 1600 Collagen. Chronologisch lässt sich das erzählerische Werk in fünf Gruppen unterteilen: Von der Wiege bis zum Graab, 1908–1912; Geographische und allgebräische Hefte, 1912–16; Hefte mit Liedern und Tänzen, 1917–1922; Allbumm-Hefte mit Tänzen und Märschen, 1924–28; Trauer-Marsch, 1928–1930. In Von der Wiege bis zum Graab erzählt Wölfli in Form eines Reiseberichts seine Lebensgeschichte neu. Der Held der Ereignisse ist er selbst im Alter von zwei bis acht Jahren. Das Kind Doufi wird auf seinen Reisen durch die verschiedenen Erdteile von seiner Mutter und einer immer grösser werdenden Gruppe von Verwandten und Freunden, der «Schweizer Jäger- und Natuhrvorscher-Reise-Gesellschaft», begleitet. Die darauffolgenden Geographischen und allgebräischen Heften beschreiben die Entstehung der Zukunft, der kommenden Skt. Adolf-Schöpfung. In den Heften mit Liedern und Tänzen und in den Allbumm-Heften mit Tänzen und Märschen zelebriert Wölfli in tausenden von musikalischen Kompositionen, die kommende Welt und seine Selbsternennung zu Adolf II.
Der abschliessende Trauer-Marsch besteht aus Reihungen von Lautgebilden, gereimt auf die Vokale a, e, i, o, u und Rhythmusangaben. Er ist fast ausschliesslich mit Collagen illustriert. In diesen Collagen nimmt Wölfli Themen seiner eigenen Welt – und der Welt draussen – in konzentrierter Form nochmals auf: Politik, Familie, Luxus, Fortschritt, Katastrophen, Liebe, Frauen, Exotik und vor allem die vielen Erscheinungsformen der Werbung: Reklamen von Coca-Cola oder der Tomatensuppe von Campbell’s nutzt er bereits 1929 im Trauer-Marsch für seine Collagen und nimmt damit die Ikonographie der Pop Art vorweg (Coca-Cola; Delicious Tomato Soup). Die zwischen 1916 und 1930 ausgeführten farbigen Einblatt-Zeichnungen, Wölflis sogenannte «Brotkunst», entstanden nicht als Illustrationen seiner Schriften, sondern ausschliesslich für den Verkauf und auf Bestellung. Wölfli dokumentierte dies in «Verzeichnissen» mit Angaben von Titeln, Preisen und Besitzern. Wird das Werk von Adolf Wölfli anfänglich als Geheimtipp gehandelt, so erwacht nach dem Zweiten Weltkrieg – im Zusammenhang mit der Faszination für das Exotische, Aussenseiterische und Freuds Theorie des Unbewussten – das Interesse an seiner Kunst. 1948 gründet der französische Künstler Jean Dubuffet die Compagnie de l’Art Brut und erschafft einen neuen Zugang zu künstlerischen Erzeugnissen von Aussenseitern.
Dubuffet widmet Adolf Wölfli im selben Jahr eine seiner ersten Ausstellungen in der Pariser Galerie René Drouin. Beschränkte sich das Interesse für die Art Brut bis dahin vor allem auf die Psychiatrie, so beginnt sich in den 1960er Jahren auch der Kunstbetrieb mit der Erforschung der nichtverbalen Ausdrucksmittel von psychisch Kranken zu beschäftigen – und damit den Kunstbegriff zu hinterfragen und auszudehnen. 1963 zeigt Harald Szeemann eine Auswahl von Wölflis Werken in der Ausstellung Bildnerei der Geisteskranken – Art Brut – insania pingens in der Kunsthalle Bern. 1967 präsentiert Dubuffet in der Übersichtsausstellung L’Art brut im Musée des Arts Décoratifs in Paris seinen gesamten Bestand an Wölfli-Zeichnungen. 1971 zeigt das Kupferstichkabinett im Kunstmuseum Basel Zeichnungen von Wölfli aus einer Privatsammlung und ehrt damit als erstes Kunstmuseum einen geisteskranken Künstler mit einer Einzelausstellung. 1972 rekonstruiert Harald Szeemann an der Documenta 5 in Kassel Wölflis Wohn- und Arbeitszelle aus der Waldau und stellt dessen Werk in den Kontext der internationalen zeitgenössischen Kunst. 1975 Gründung der Adolf Wölfli-Stiftung mit Sitz im Kunstmuseum Bern. 1976 findet ebenda die erste Übersichtsausstellung mit anschliessender Tournee in vierzehn europäischen und amerikanischen Städten statt.
1987 Die Gleichzeitigkeit des Anderen im Kunstmuseum Bern, wo im gleichen Raum Werke von Paul Klee und Adolf Wölfli gezeigt werden. Weitere Präsentationen im Kunstmuseum Bern folgen 1992 und 2008. Wölflis Arbeiten werden in Europa und in den Vereinigten Staaten (Philadelphia 1988, New York 1988 und 2003, Berkeley 1989) gezeigt. Wölfli gilt als einer der prominentesten Vertreter der Art Brut und Outsider Art. Sein Werk beeinflusst und inspiriert bis heute, unter anderem widmen Kunstschaffende wie Meret Oppenheim, Daniel Spoerri, Jean Tinguely, Franz Eggenschwiler und Bernhard Luginbühl Hommagen an den Künstler. Ausgehend von der vielfachen Wechselwirkung, die Wölflis Arbeiten auslösen, erschliessen sie sich nicht nur für die kunsthistorische Forschung, sondern ebenfalls für psychopathologische, literatur- und musikwissenschaftliche Ansätze.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Elka Spoerri, 1998, aktualisiert 2012 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4022971
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