SELIGMANN, KURT
* 14.3.1853 BERN, † 19.5.1918 GENF
Maler, Druckgrafiker und Zeichner.
Kurt Seligmann wächst in Basel als Sohn eines aus Deutschland eingewanderten Möbelhändlers und -fabrikanten und einer aus Lengnau stammenden Mutter auf. Puppentheater, Stummfilme und Basler Fasnacht wirken prägend. Unterricht bei Ernst Buchner und Eugen Ammann. 1918 erste Ausstellungsbeteiligung. 1919–1920 an der École des Beaux-Arts in Genf; Bekanntschaft mit Alberto Giacometti und Freundschaft mit dem späteren Kunsthistoriker und Schriftsteller Pierre Courthion. Führt 1920–1927 das elterliche Geschäft in Basel. Nach der Urs-Graf-Ausstellung 1926 in der Kunsthalle Basel Entschluss zur Existenz als freier Künstler. Geht nach erfolglosem Jahr in Italien auf Anraten Otto Abts Anfang 1929 nach Paris. Unterricht bei André Lhote und Fernand Léger. Die Begegnung mit Werken von Max Ernst weckt Ende 1929 das Interesse am Surrealismus. Wird von Jean Arp protegiert und 1931 in die Gruppe Abstraction-Création aufgenommen. 1932 künstlerischer Durchbruch: erste Einzelausstellung in Paris und, zusammen mit Jean Arp, Serge Brignoni und Hans Schiess, Ausstellungen in Basel und Bern; Begegnung mit André Breton. Mitglied der Gruppe 33 in Basel. Ab November 1934 Mitglied der surrealistischen Bewegung. 1935 Heirat mit Arlette Paraf, Nichte des Kunsthändlers Georges Wildenstein. Eine Weltreise weckt das Interesse an Völkerkunde. 1937 Mitglied der Gruppe Allianz. 1938 in Paris prominent beteiligt an der Exposition Internationale du Surréalisme in der Galerie Beaux-Arts. Erwirbt im Sommer in Kanada einen grossen Totempfahl (Paris, Musée de l’Homme).
Ende 1939 Übersiedlung nach New York. Hier neben Marcel Duchamp wichtigster Vermittler zwischen den europäischen Surrealisten im Exil und den jungen Amerikanern der New York School. Viele Freundschaften mit Künstlern und Kunsthistorikern wie Meyer Schapiro, Katherine Kuh und Max Raphael. Förderung durch das Chicagoer Sammlerehepaar Mary und Earle Ludgin. Vor Kriegsende Bruch mit André Breton. Versucht nach dem Krieg den Anschluss an die New Yorker Avantgarde zu halten. 1948 nach langjährigen Recherchen Publikation einer Geschichte der Magie. Studien über Hieronymus Bosch. Unterrichtet 1951–1957 an der New School for Social Research Aesthetic Experience und, neben Ad Reinhardt, als Associate Professor am Brooklyn College. Mitglied der Creative Film Foundation. Gerät Mitte der 1950er Jahre als semifigurativer Künstler in den Schatten der dominierenden Abstrakten Expressionisten. Depressionen und Herzbeschwerden. Erschiesst sich 61-jährig vor seinem Landhaus in Sugar Loaf. 1982 erschien ein Werkverzeichnis der Druckgrafik; 1997 fand im Kunsthaus Zug eine umfassende Retrospektive statt.
Auf Lasurmalereien auf Glas, die von kolorierten Projektionsbildern angeregt worden waren, folgt 1918–1920 das eigentliche Frühwerk, in dem sich Seligmann mit Expressionismus (Artisten, 1918; Maske, 1920) und Fauvismus (Der Tatort, 1920) befasst. Nach der unfreiwilligen künstlerischen Zäsur 1921–1927 Wiederaufnahme der Malerei in Italien mit gemässigt fauvistischen Landschaften und latent expressionistischen Figurenbildern. 1929 schwierige Phase der Neuorientierung in Paris und Auseinandersetzung mit dem Spätkubismus. Auf Anraten Fernand Légers Reduktion des Bildaufbaus auf einfache flächige und plastische Bildelemente; an Jean Arp und Joan Miró orientierte Kompositionen mit organisch-mechanoiden, stets anthropomorph aufgefassten, vor monochromem Hintergrund am vorderen Bildrand schwebenden oder ragenden Formen.
Anfang 1934 künden zwei bedeutende Radierungsfolgen (Protubérances cardiaques und Les vagabondages héraldiques) mit aus ikonografischen Versatzstücken aufgebauten Figuren das von ihm selbst als «Neo-Konkretismus» bezeichnete Streben nach einer Synthese abstrakt-konkreter und surrealistischer beziehungsweise selbstreferentieller und inhaltlicher Formen an. Entwickelt zusammen mit Pierre Courthion einen bewusst von nationalen Eigenarten und von Heraldik geprägten Surrealismus (Hommage à Urs Graf, 1934). Ab 1932, aber erst ab 1938 regelmässig, ist Seligmann als Künstler und Autor gleichermassen tätig und zunehmend an der Hinterfragung seines Selbstverständnisses als Künstler interessiert. Identifiziert 1937–1938 unter dem Eindruck der Lautréamont-Lektüre das helvetische Vorbild des reislaufenden Künstlers mit dem Prototypen surrealistischer Haltung, der literarischen Figur des ruhelos wandernden, an Leib und Seele geschundenen, Gott als den Ur-Schöpfer ewig herausfordernden Maldoror.
Aus der Beschäftigung mit Totemismus geht zum einen das legendäre Ultrameuble (1937, zerstört) als kalkuliertes, durch Überblendung von Wahrnehmungsebenen erzeugtes surrealistisches Objekt hervor, zum anderen führt die Reflexion abendländischer Formen des Ahnenkults zu Anlehnungen an die traditionelle Totentanz-Ikonografie (Danse macabre, 1937). Tänze und Umzüge sind neben dem isolierten Akteur bevorzugte Motive. Durch das surrealistische Klima geförderte intensive Auseinandersetzung mit okkulter Literatur, vor allem mit den entsprechenden Schriften von Paracelsus, regt Anfang der 1940er Jahre zur Gleichsetzung des modernen Künstlers mit dem archaischen Typus des Alchemisten und Magiers an; eine Analogie, die Seligmanns bisherige Künstlerinterpretation schlüssig ergänzt, weil sie ihrerseits traditionellerweise auf einer alternativen, konsequent diesseitig ausgerichteten Genesis-Interpretation beruht.
Auf eine kurze, aber technisch originäre Phase «zyklonischer» Landschaften (Environs of the Château d’Argol, 1941–1953) folgt in den 1940er Jahren ein Werkabschnitt, mit dem Seligmann auf den Abstrakten Expressionismus reagiert, indem er die Figuration einerseits wieder stärker zulässt, andererseits der Farbe höheren Eigenwert gewährt (Shooting Gallery, 1948). In den 1950er Jahren entstehen teils unfarbige, dynamisch-organische, an kristalline Gewächse, Kokons oder Samenhülsen erinnernde Darstellungen; vereinzelt als Selbstdarstellungen erkennbare Figurationen verschmelzen mit ihrer Umgebung zu einheitlichen Strukturen und bilden als Symbole für den Künstler im Dialog mit seinem Werk den Entwurf zu einer eigenwilligen kosmologischen Ästhetik (Part of a Garden, 1952). Die Ergründung der Ursprünglichkeit im kreativen Prozess betreibt Seligmann als das Zusammendenken etablierter und alternativer, traditioneller und innovativer Verfahren des Wissens und deren visueller Veranschaulichung.
Auf die enzyklopädische Struktur seiner Wahrnehmung antwortet er in seinen Bildern mit ironischer Brechung und mit hintergründigem Humor. Durch sein bildungsbürgerlich fundiertes Vermögen, sich mit den Mitteln der Kunst und der Literatur mit den künstlerischen Hauptströmungen seiner Zeit auseinanderzusetzen und sie einleuchtend auf ihre kultur- und kunstgeschichtlichen Bedingungen zurückzuführen, gehört Seligmann zu den spannendsten und aufschlussreichsten Schweizer Figuren in der Kunst des zweiten Drittels des 20. Jahrhunderts.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Stephan E. Hauser, 1998, aktualisiert 2015 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4023425
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