LOEWENSBERG, VERENA
* 28.5.1912 ZÜRICH, † 27.4.1986 ZÜRICH
Malerin, Zeichnerin und Grafikerin.
Der Vater Paul Loewensberg, Sohn einer eingewanderten deutsch-jüdischen Getreidehändlerfamilie, ist als Mediziner tätig. Die Mutter, Erika Idda Spühler, studiert bis zur Geburt von Verena, der drei Geschwister folgen, ebenfalls Medizin. Von 1912 bis 1914 lebt die Familie in Berlin, zieht 1915 ins Tessin und lässt sich 1918 in Sissach (Kanton Basel-Landschaft) nieder. Dort eröffnet Paul Loewensberg eine Landarztpraxis. Verena besucht die Untere Töchterschule in Basel und tritt 1927 in die Gewerbeschule Basel ein. Besuch der allgemeinen Fächer Weben, Sticken, Entwerfen und Farbenlehre. 1929 vorzeitiger Schulaustritt, Lehre bei der Weberin Martha Guggenbühl in Speicher (Appenzell Ausserrhoden), Tanzausbildung bei Trudi Schoop in Zürich. 1932 Heirat mit Hans Coray, promovierter Romanist und Gestalter (unter anderem des «Landi-Stuhls»). 1933 gemeinsamer Aufenthalt in Ascona-Saleggi, 1934 Rückkehr nach Zürich. Kontakte zu Kunstschaffenden aus unterschiedlichen Bereichen, lebenslange Freundschaft mit Max und Binia Bill. 1935 Reise nach Paris und kurzzeitiges Studium an der von der Schweizerin Edvige Schläpfer gegründeten Kunstschule Académie Moderne, die aus dem Kreis der Künstlergruppe Abstraction-Création entstanden ist.
Vom Akademismus enttäuscht, bricht Verena Loewensberg die Ausbildung kurzerhand ab. Max Bill, selber Mitglied von Abstraction-Création, nimmt sie bei Atelierbesuchen mit; dabei lernt sie das Werk verschiedener Künstler wie Jean Arp, Marcel Duchamp, Antoine Pevsner, Theo van Doesburg und Georges Vantongerloo kennen. Vor allem das Schaffen der zwei letztgenannten wirkt sich inspirierend auf ihr Werk aus. Aufnahme in den Kreis der Zürcher Avantgarde, Zugehörigkeit zu den ab den 1950er Jahren so genannten Zürcher Konkreten (Max Bill, Camille Graeser, Richard Paul Lohse). 1936 an der wegweisenden Ausstellung Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik im Kunsthaus Zürich vertreten; ab 1937 Mitglied der Künstlergruppe Allianz. Beteiligung an deren Ausstellungen und Editionen (Almanach neuer Kunst in der Schweiz, 1940; Bulletin abstrakt/konkret der Galerie des Eaux-Vives, Zürich, 1945).
1943 Geburt des Sohnes Stephan, 1946 der Tochter Henriette. Lebensunterhalt durch freie Tätigkeit im Bereich von Stoffentwurf und Gebrauchsgrafik, Zusammenarbeit mit Hans Coray, vor allem für Ausstellungsbauten. 1949 Scheidung von Hans Coray. 1953 Heirat mit Alfons (Föns) Wickart. Eröffnet 1964 aus Passion für klassische und zeitgenössische Musik das Schallplattengeschäft City Discount, das bis zur Schliessung 1970 ein Treffpunkt der Schweizer Musikszene bleibt. Ab 1970 ausschliessliche Konzentration auf die bildende Kunst. Zwischen 1977 und 1980 zahlreiche Reisen unter anderem nach Frankreich, Italien, Irland, in die USA und nach Japan. 1966 Ausführung der einzigen Arbeit im Bereich Kunst am Bau, das Deckengemälde in der Kirche St. Michael, Gemeinde Zollikerberg. 1969–1976 Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission. Verena Loewensberg ist in Zürich bestattet, ihr Ehrengrab befindet sich auf dem Zürcher Friedhof Sihlfeld.
Ab 1936 in der Schweiz, ab 1949 im Ausland in zahlreichen repräsentativen Ausstellungen über konkrete und konstruktive Kunst vertreten. 1967 Einzelausstellung im Helmhaus, Zürich, 1981 Retrospektive im Kunsthaus Zürich und im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen, 1982 in der Modernen Galerie Bottrop, 1992 im Aargauer Kunsthaus Aarau, 1998/1999 im Haus für konstruktive und konkrete Kunst, Zürich, 2006/2007 im Haus Konstruktiv Zürich und 2012 im Kunstmuseum Winterthur. 2009 Werkverzeichnis der Druckgrafik (59 Nummern), 2012 Werkverzeichnis der Gemälde (632 Nummern).
Im Mittelpunkt von Verena Loewensbergs Schaffen steht die Suche nach der Vereinigung von Ratio und Empfindung, Systematik und Einfallsreichtum, universeller Ordnung und psychischer Energie. Sie entwickelt weder ein festes Programm, noch stützt sie sich auf eine theoretische Grundlage. «Ich habe keine Theorie, ich bin darauf angewiesen, dass mir etwas einfällt», äussert sie 1977. Das Werk weist keine lineare Entwicklung auf, sondern artikuliert sich in periodisch wechselnden und oft rückbezüglichen Bildkonstruktionen, von der extremen Reduktion bis zur geometrisch komplexen Verflechtung. Wiederkehrende Themenkreise sind die Beziehungen zwischen Linie und Fläche, Figur und Grund, Zentrum und Rand sowie Symmetrie und Asymmetrie, Statik und Bewegung, Reduktion und Expansion. Basis bilden einfache geometrische Formen wie Vieleck, Rechteck, Dreieck, Kreis sowie deren Teilungen und Kombinationen. Allerdings sind diese mathematisch so komplex miteinander verbunden, dass die zugrundeliegenden Ordnungsstrukturen (wie Progressionen, Rotationen) dem Betrachter meist verborgen bleiben. Wesentlichen Anteil an der Formulierung hat die Farbe als psychisch-energetische Komponente. Ihre Anwendung umfasst – von Schwarzweiss zu den Primär- sowie aufgehellten Mischfarben – ein äusserst differenziertes Spektrum von Farbtönen und -kombinationen. Verena Loewensbergs Hauptmedium ist die Malerei, die sie 1944 aufnimmt.
Die Gemälde führt sie stets in Öl auf Leinwand und auf der Grundlage vorgängiger Farbstiftstudien auf Millimeterpapier aus. Die Malerei wird von der Arbeit auf Papier, Aquarell, Gouache, Tempera (vor allem im Frühwerk) sowie von der Druckgrafik (mit Schwerpunkt ab den 1970er Jahren) begleitet. Trotz ihres Interesses für die Skulptur und mehrerer Entwürfe hat Verena Loewensberg insgesamt nur deren zwei realisiert: eine Miniskulptur aus Chromstahl für das Schubladenmuseum von Herbert Distel (1971) und eine Skulptur aus Holzstäben (1981). Die Werke sind (mit Ausnahme der Twins, 1976–1977) stets ohne Titel aufgelistet, um – wie Loewensberg sich äusserte – die Wahrnehmung unvoreingenommen auf die Bilderfahrung hinzulenken. Nach ersten gegenständlichen und abstrakten Experimenten setzt das konstruktive Werk konsequent im Jahr 1936 ein, vorerst ausschliesslich in der Arbeit auf Papier.
Die 1930er und 1940er Jahre stehen im Zeichen der Erprobung der Bildmittel zwischen Anlehnung an die Abstraction-Création und Neufindung; sie bilden die Grundlage für die zukünftige Ausweitung der Themenkreise. In den 1950er Jahren steht die rhythmische Anordnung von Linien-, Kreis- oder Rechteckelementen in meist kleinteiliger Gruppierung mit Bewegungsverlauf in der Rotation im Vordergrund.
Ab den 1960er Jahren erste Werkgruppen mit Variierung eines spezifischen Themenspektrums (zum Beispiel Werkreihen von Quadrat-, Kreis- und Streifenformationen). Steigerung hinsichtlich der Intensität der Farbe und der Expansion der Formgebung in Auseinandersetzung mit zeitgleichen Tendenzen wie Hard Edge und Signalkunst.
Ab den 1970er Jahren vermehrte Vertiefung in Themengruppen. 1970 bis 1974 rund dreissig verschiedenartige Kreisformationen mit weissem Zentrum, im weitesten Sinn als Mandalas aufzufassen. 1974–1975 führt Verena Loewensberg einen 21-teiligen Zyklus horizontaler Streifenbilder im Format 120 × 80 cm aus, die aufgrund der fein tradierten rhythmischen Bildaufteilung und atmosphärischen Farbtemperatur geradezu lyrisch anmuten. 1976–1977 folgt der 18-teilige Werkzyklus der Twins; er umfasst jeweils zwei monochrome Leinwandbilder von je 20 × 20 cm in einem gemeinsamen Rahmen, in Loewensbergs Schaffen die radikalste Konzeption einer Bildlösung. 1977–1978 entsteht eine Werkfolge von neun formal reduzierten Diptychen als Nachhall des Japanaufenthalts von 1976.
Zwischen 1979 und 1980 hält sich Verena Loewensberg in Sizilien auf, um die antike Tempelarchitektur zu studieren; deren klassische Proportionalstruktur wird 1981–1985 in einer 15-teiligen Variationsreihe rektangulärer Balkenelemente aufgenommen. 1984 Beginn des letzten und mit dreissig Werken umfangreichsten Werkzyklus. Die Basis bildet das aus dem Quadrat entwickelte unregelmässige Vieleck auf quadratischem Grund (100 × 100 cm). Der Zyklus basiert mit zwei Ausnahmen auf Zweifarbigkeit; in der Konsequenz der Formulierung von Intension und Extension sowie der wechselnden Nuancierung des Farbklangs bildet er den reifen Schluss- und Höhepunkt von Loewensbergs vielstimmigem Lebenswerk. Dem inneren Kreis der so genannten Zürcher Konkreten zugehörig, nimmt Verena Loewensberg durch ihr Geschlecht, ihre Wesensart und ihr Werkverständnis eine gesonderte Stellung ein. Vor allem ihre freiheitliche Auffassung konstruktiver Kunst trägt dazu bei, dass sich die verdiente Anerkennung lange verzögert. Aus der heutigen Distanz, in der Neubewertung der historischen Entwicklung, ist es gerade die formale Komplexität ihres Werkes, die sich als besondere Qualität erweist.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Elisabeth Grossmann, 2012 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4001130
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