GEHR, FERDINAND
* 6.1.1896 NIEDERGLATT (SG), † 10.7.1996 ALTSTÄTTEN
Maler. Wandmalerei und Glasmalerei.1911 tritt Ferdinand Gehr, Sohn eines Handstickers, in die Schule des Industrie- und Gewerbemuseums St. Gallen ein. 1914–18 arbeitet er als Vergrösserer von Textilentwürfen im Stickereigeschäft Egli in Flawil. 1919 wird er Schüler von August Wanner an der Gewerbeschule St. Gallen für textiles Zeichnen. Er studiert 1922 die Bilder Emil Noldes in St. Gallen, 1922–23 die Freskotechnik in Florenz. 1925 malt er erste kleine Fresken. Den Winter 1923–24 verbringt er beim französischen Maler und Kunsttheoretiker André Lhote in Paris; im Winter 1928–29 folgt eine Deutschlandreise. 1924 erstes eigenes Atelier in Niederglatt (SG), 1928 Atelier in Niederuzwil. 1934–37 entsteht eine Reihe bedeutender Fresken.
1937 empfängt er tiefe Eindrücke in Italien durch die Bilder von Duccio, Cimabue, Giotto, aber auch in den Etruskergräbern. Ab 1930 führt er zahlreiche Aufträge für Ausmalungen von Kirchen und Glasmalereien aus. 1938 Heirat mit Mathilde Mazenauer; das Ehepaar hat fünf Kinder. 1956 findet schliesslich die erste Gesamtausstellung in St. Gallen statt. Gehr ist zu dieser Zeit einer der meistbeschäftigten und umstrittensten Wandbildmaler der Schweiz. 1994 letzte grosse Einzelausstellung zu Lebzeiten des Künstlers im Kunsthaus Zürich. 1998 Gründung der Gehr-Stiftung. 2001 Retrospektive im Kunstmuseum St. Gallen und in der Fundaçao Calouste Gulbenkian in Lissabon; eserscheint eine grosse Monografie. 2017 Ausstellung Ferdinand Gehr – Bauen an der Kunst im Kunstmuseum Olten, begleitet von einem Katalog zu den öffentlichen Aufträgen des Künstlers.
In der 1959 von der Schweizerischen St. Lukasgesellschaft (SSL) herausgegebenen Monografie formulierte Gehr die «Grundlagen und Möglichkeiten einer neuen Sakralkunst»: «Der Ausdruck des modernen Bildes ist zeichenhaft geworden. Zeichenhaft abstrakt müsste wohl auch der Stil sein, welcher die heiligen Zustände und Bewegungen dem Auge vermitteln könnte.» Gehr entwickelte 1927–28 ganz bewusst seinen Stil für christliche Themen, während er parallel dazu spätimpressionistische Landschaften und Porträts schuf, die den Einfluss von Paul Cézannes Realismus verraten. Die Beschäftigung mit Cézanne war auch für Gehrs religiöse Kunst von Bedeutung; im numinosen Realismus fand er eine wichtige Bestätigung für die Möglichkeit, das «Unbedingt-Wirkliche» (Paul Tillich, 1959) darzustellen. Die kompromisslose Konzentration auf die Grundfarben mochte Gehr geholfen haben, durch die Überwindung der Tradition des 19. Jahrhunderts die religiöse Malerei zu neuem Leben zu erwecken.
Er entwickelte sie konsequent weiter im Sinne seiner Forderung nach farblicher und formaler Reduktion, ohne die figürlich gestalteten Bildinhalte aufzugeben. Er orientierte sich an Cézanne, Picasso sowie Jean Arp, der ihm zum Freund wurde, an den Kubisten und vor allem an Nolde und Henri Matisse. Und er sah sich als Zeitgenosse, wenn er seinen Dämonenfries von 1937 Hugo Ball widmete. Die Fresken der Kirche Bruderklaus in Oberwil (ZG) von 1957 wurden lange Zeit von der Bevölkerung heftig angefeindet. Gehr nahm das Evangelium wörtlich und setzte es malerisch in grossflächigen und stark farbigen Kompositionen um. Auffallend in seinem Œuvre sind die Frontalansichten der Figuren, vor allem der heiligen Figuren. Hier ist nur Christus in strenger Frontalität gegeben; sie ist in der christlichen Kunst stets Ausdruck der endzeitlichen Begegnung des Menschen mit Gott. Es ist bei Gehr kein unreflektiertes Kopieren, er formulierte die Tradition neu in der Besinnung auf die Wurzeln der christlichen Kunst in den Katakomben, in Ravenna, in Rom und Byzanz. «Wenn wir wieder zu einer wahrhaft christlichen Kunst kommen wollen, so müssen wir wieder ganz von vorne anfangen [...] und uns nicht verwundern [...], wenn der Anfang arm aussieht.»
Gehrs Kunst kommt in ihrer stilistischen Konstanz und Konsequenz die gleiche Zeitlosigkeit zu, wie sie für die ravennatischen Mosaiken gilt. Dabei kann sich der Betrachter bei Gehr nicht einfach auf das Dargestellte verlassen, er vermag nicht wie in Ravenna die Szene stets zweifelsfrei zu deuten. Auch Gehr war wie die meisten seiner Zeitgenossen misstrauisch gegenüber dem Schein und verschlüsselte seine Bildbotschaften − sie können nur meditierend erfahren werden. Damit lässt sich Gehrs christliche Kunst durchaus an den als Errungenschaften gefeierten Bildern von Mark Rothko und Barnett Newman messen, mit dem Unterschied, dass Gehr nie einen Zweifel darüber liess, welchen Inhalts seine Botschaft war; seine Bilder erschliessen sich nur über das christliche Glaubensbekenntnis. Seine Besinnung auf die frühchristliche Tradition verbietet es, von einem römisch-katholischen Bekenntnis zu sprechen als Gegensatz zum evangelisch-reformierten. Er stellte seine Kunst in den Dienst der Kirche, der Kirche nicht nur als Institution, sondern vor allem der Kirche als Versammlungsort der Gläubigen, der Kirche als Ort, wo Gott präsent ist. Gehrs Kirchenkunst darf aber deshalb nicht als angewandte Kunst in Gegensatz zu den ohne Auftrag gemalten Bildern gesetzt werden.
Die Blumenbilder Gehrs, auch als Holzschnitte realisiert, führen in die gleiche Richtung. Sie sind in ihren einfachen Formen und klaren Farben nichts anderes als das Lob der Schöpfung. Nicht unerwähnt bleiben darf die Glasmalerei; Gehr bemühte sich darum, die alte Glastechnik zu pflegen. Die Reduktion auf wenige Farben kam ihm dabei zugute. Gehr war bis ins hohe Alter ein vielbeschäftigter Künstler. Seine Fresken, vor allem für katholische Sakralbauten, stiessen auch ausserhalb der Schweiz auf Interesse, so erhielt er 1974 den Auftrag für die Malereien im Trierer Dom. Die Theologische Fakultät der Universität Freiburg i. Ue. anerkannte 1970 mit einiger Verzögerung die Verdienste des Künstlers mit der Verleihung des Ehrendoktors. Diese Auszeichnung erstaunt umso mehr, als Gehr innerhalb der Kunstgeschichte kaum zur Kenntnis genommen wurde; alle grossen Übersichtswerke zur schweizerischen Kunst verschweigen seinen Namen.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Christoph Eggenberger, 1998, aktualisiert 2017 https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4001924
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