DIETRICH, ADOLF
* 9.11.1877 BERLINGEN, † 4.6.1957 BERLINGEN
Maler und Zeichner. Hauptvertreter der Naiven Malerei.
Adolf Dietrich wächst als jüngstes von sieben Kindern in ärmlichen Verhältnissen auf. Seine Eltern bewirtschaften ein kleines Bauerngut im Untersee-Dorf Berlingen, sein Vater verdient sich ein Zubrot als Grenzwächter und Polizist. Natur und Landschaft seiner Heimat prägen Dietrich, und früh wird sein ausserordentliches Zeichentalent entdeckt. Der Dorfschullehrer empfiehlt eine Lithografen-Lehre im nahen Konstanz, der sich die Eltern jedoch widersetzen; der Jüngste wird als Arbeitskraft benötigt. Zeitlebens wird er als Junggeselle im Elternhaus bleiben.
Da das Gütlein wenig abwirft, sucht er als Strickweber in der örtlichen Trikotfabrik ein Auskommen, wird später Heimarbeiter, vorübergehend auch Wald- und Streckenarbeiter. Zum Zeichnen kommt er nur an Sonntagen. Ein Sonntags-Maler bleibt er lange; schon früh aber hegt er professionelle Ansprüche. Von 1896 stammt das erste der 25 Skizzenbüchlein, um 1900 entstehen erste Aquarelle, 1902 das erste Ölbild. Dietrich malt ohne Lehrer und Vorbild. Der Basler Fritz Voellmy und der Nürnberger Bruno Goldschmitt, welche 1905 und 1906 nach Berlingen kommen, beeinflussen den Autodidakten weniger stilistisch als durch ihr Selbstverständnis als Landschaftsmaler. Ihre Empfehlung, ganz der Beobachtung zu vertrauen, trifft bei Dietrich auf offene Ohren. Obwohl er in allen Schaffensphasen auch aus der Phantasie malt, wählt er fortan zumeist Sujets seiner nächsten Umgebung.
Jahrelang bemüht er sich vergeblich um Ausstellungen in Schweizer Museen. 1913 werden seine Werke im Wessenberghaus in Konstanz erstmals öffentlich gezeigt. Lange beschränkt sich die Rezeption vorwiegend auf Deutschland: 1917 kann er bei Hans Goltz in München ausstellen; ab 1920 vertritt ihn der Mannheimer Kunsthändler Herbert Tannenbaum, der ihn 1927 an Neumann und Nierendorf in Berlin, 1928 an Flechtheim und Kahnweiler in Frankfurt vermittelt. Ist das Interesse für den Laienmaler vorerst noch durch die Entdeckung Henri Rousseaus motiviert – Dietrich wird zum «deutschen Rousseau» – , erklärt es sich später aus der stilistischen Nähe zur Neuen Sachlichkeit.
Wegen seiner Landschaften wird er als Hauptvertreter der «Neuen deutschen Romantik» verstanden, der neusachlichen Spätphase, welche einige Jahre darauf von der «Blut und Boden»-Ideologie der Nazis vereinnahmt wird. Dietrichs Schaffen ist davon kaum betroffen, bricht seine Vermittlung in Deutschland, bedingt durch seine ausländische Herkunft und die Flucht seines jüdischen Kunsthändlers, doch nach 1937 abrupt ab. Hat Dietrich bisher vor allem nach Deutschland verkauft – aufgrund der guten Erträge kann er 1924 seine Heimarbeit aufgeben –, ist er nun ganz auf eine Käuferschaft in der Schweiz angewiesen.
Langsam beginnen sich auch hier Museen und Galerien – Bettie Thommen in Basel, J. E. Wolfensberger in Zürich – für den Maler zu interessieren. Der eigentliche Durchbruch gelingt 1937–1938 mit der Ausstellung Les maîtres populaires de la réalité in Paris, Zürich und New York, welche Dietrich als Hauptvertreter der Naiven Kunst feiert. 1942 Einzelausstellung im Kunsthaus Zürich. Ruhm und steigende Bildpreise ändern nichts an seinem bescheidenen Lebenswandel. Kurz vor seinem Tod setzt ein kurzes Alterswerk ein. 1957 Gedächtnisausstellung im Kunsthaus Zürich, 1977 Zentenarausstellung in Frauenfeld. 1994 Doppelausstellung in der Kartause Ittingen und im Kunstmuseum Winterthur sowie Publikation des Œuvrekatalogs der Gemälde und Aquarelle.
Dietrichs stilistische Zugehörigkeit ist umstritten; sein Schaffen wird sowohl im Umfeld der Naiven Malerei wie der Neuen Sachlichkeit rezipiert. Die Unentschiedenheit kommt nicht von ungefähr: Zum einen haben neusachliche Künstler bewusst naive Gestaltungsweisen übernommen, zum andern erreicht Dietrichs Malerei eine Präzision der Dingerfassung, wie sie neusachliche Künstler einsetzen, naive aber nur selten meistern. Zwar ist Dietrichs Kunst in ihrer zeichnerischen Durchführung und minuziösen Feinmalerei der Neuen Sachlichkeit eng verwandt, sie zeigt aber ein weit optimistischeres Weltbild. Dietrich hält zumeist das Vergänglich-Schöne und Besondere von Natur und Landschaft fest. Winterliche Einsamkeit und Tod sind als Themen zwar nicht ausgeschlossen, innerhalb seines bäurischen Alltags aber ein natürlicher Teil.
Einzig in den Bildern aus den Kriegsjahren und in seinem Alterswerk, das sich durch eine lichtere Palette und einfachere Formgebung auszeichnet, scheinen Bedrohung und Tod nachdrücklich reflektiert. Von den letzten Werken abgesehen, vollzieht sich in Dietrichs Schaffen keine stilistische Entwicklung. Schon auf seinen Aquarellen um 1900 sind die Tiere mit derselben akribisch-liebevollen Art erfasst wie auf seinen späteren Ölbildern. Als Vorlagen dienen ihm zoologische Bücher oder ausgestopfte Tiere, die er in seiner Stube zur vielzähligen «Menagerie» gruppiert. An ihnen übt er sich, wie in Schultagen, im exakten Abzeichnen. In vieler Hinsicht erinnert der «Horror vacui», wie er etwa auf den Bildern seines Nachbargartens sichtbar wird, an die «Primitivität» spätgotischer Meister. Auch bei Dietrich verbindet sich naturwissenschaftliche Präzision mit animistischem Dingglauben: Letztlich ist er ein Realist im Sinne der «Maîtres primitifs» des 15. Jahrhunderts. Dietrichs Motivwelt ist klein und bezieht sich fast immer auf seine direkte Erlebniswelt am Untersee; Berlingen wird ihm zur «Welt».
Die Wechsel von Witterung, Tages- und Jahreszeit lassen ihn dieselbe Seelandschaft immer neu sehen. Bei seinen Motivgruppen – Mensch und Tier, Landschaft und Stilleben – fallen starke Schwankungen auf: Während er bei Tieren und Stilleben eine frappante Stofflichkeit erreicht, wirkt die Erfassung der Menschen, weniger bei Bildnissen als bei Genrebildern, meistens naiv. Deutlich fällt dies vor allem bei den unbeholfen wirkenden Phantasiebildern auf. Daran wird ermessbar, wie sehr Dietrichs Malerei von der direkten und konzentrierten Anschauung abhängt. Fast alle seine Bilder malt er daheim, auf dem Stubentisch, in tagelanger Kleinarbeit
. Als Vorlagen benutzt er neben Büchern und Präparaten auch die eigenen Skizzen und Fotos, welche er auf seinen sonntäglichen Streifzügen macht. Gegen das vielbeschworene Klischee des «reinen Toren» sprechen Dietrichs Geschäftstüchtigkeit und sein Handwerker-Stolz als «Malermeister von Berlingen». Mit Hilfe von Pausen stellt er auf Wunsch der Käuferschaft die beliebtesten Motive gleich mehrfach her und verwendet seine Skizzenbücher als «Verkaufskataloge». Die Qualität von Dietrichs Schaffen liegt zum einen in der ungemeinen Gabe der Beobachtung und Differenzierung, zum anderen im intuitiven Farbensinn, der ihn sowohl monochrome wie starkbunte Meisterwerke schaffen lässt. Seine minuziöse Wahrnehmung der Kreatur macht Achtung und Achtsamkeit spürbar; Sachlichkeit verbindet sich mit tiefer Einfühlung. Glanzpunkte sind seine Kinderbildnisse und Winterlandschaften. Dietrich zählt zu den bedeutendsten Schweizer Malern des 20. Jahrhunderts. Als Hauptvertreter der Naiven Malerei hat er internationalen Rang.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Christoph Vögele, 1998, aktualisiert 2010 ;https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4000040
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