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Lot 3244 - A210 Gemälde des 19. Jahrhunderts - Freitag, 20. September 2024, 16.00 Uhr

HONORÉ DAUMIER

(Marseille 1808–1879 Valmondois)
L'avocat lisant. Um 1868–70.
Öl auf Leinwand.
41,5 × 33 cm.


Provenienz:
- Wohl Sammlung Jean-Baptiste Camille Corot (1796–1875), Paris.
- Sammlung Arsène Alexandre (1859–1937), Paris.
- Sammlung Adolphe Tavernier (1853–1945), Paris.
- Auktion Galerie Georges Petit, Collection Adolphe Tavernier, Paris, 6.3.1900, Los 14, als "La Lecture du placet".
- Auktion Hotel Drouot, Collection Adolphe Tavernier, Paris, 15.4.1907, Los 9, als "Salle des Pas Perdus".
- Sammlung Gallimard, wohl Paul Sébastien Gallimard (1850–1929), Paris.
- Wohl Kunsthandel Druet.
- Sammlung Eduard Bühler (1862–1932), Winterthur.
- Durch Erbschaft, Sammlung Dr. Robert Bühler (1902–1971), Winterthur (verso mit Etikett).
- Durch Erbschaft, Schweizer Privatbesitz.

Ausstellungen:
- Paris 1901, Exposition Daumier, par le Syndicat de la presse artistique, École des Beaux-Arts, Mai 1901, Nr. 75.
- St. Petersburg 1912, Exposition Centennale de l’Art français, Institut Français, Nr. 240, als “Avocat” (verso mit Resten eines Etiketts).
- Basel 1921, Exposition de peinture française, Société des Beaux-Arts, Nr. 46.
- Winterthur 1942, Der Winterthurer Privatbesitz I, Kunstmuseum Winterthur, 5.9.–1.11.1942, Nr. 77, als “L’avocat” (verso mit Etikett).
- Paris 1946, La peinture française du XIXe siècle en Suisse, Gazette des Beaux-Arts, Nr. 38a.
- Paris 1953, Monticelli et le Baroque Provençal, Musée de l'Orangerie des Tuileries, Juni – September 1953, Nr. 29.
- Paris 1959, De Géricault à Matisse: Chefs-d’Œuvre français des Collections suisses, Petit Palais, Nr. 36 (verso mit Etikett).
- Wolfsburg 1961, Französische Malerei von Delacroix bis Picasso, veranstaltet vom Volkswagenwerk, Stadthalle Wolfsburg, 8.4.–31.5.1961, Nr. 39 (verso mit Etikett).
- London 1961, Daumier: Paintings and Drawings, Tate Gallery, Juni – Juli 1961, Nr. 86, als “A Lawyer reading a Document” (verso mit Etikett).
- Schaffhausen 1963, Die Welt des Impressionismus, Museum zu Allerheiligen, 29.6.–29.9.1963, Nr. 31, als “Lesender Advokat” (verso mit Etikett).

Literatur:
- Erich Klossowski: Honoré Daumier, München 1923, 2. Auflage, S. 97, Nr. 116.
- Eduard Fuchs: Der Maler Daumier, München 1927, S. 46, Nr. 22a. (mit Abb.).
- Jacques Lassaigne: Daumier, Paris 1938, S. 81 (mit Abb.).
- Jacques Lassaigne: Daumier, in: Jacques Lassaigne (Hrsg.), Les Grands Maîtres de la Peinture, Paris 1946, S. 27 (mit Abb.).
- Jean Adhémar: Honoré Daumier, Paris 1954, Abb. 21.
- Curt Schweicher: Daumier, London 1953, Abb. 24.
- Arts et Livres de Provence: Daumier, Marseilles 1955, S. 16.
- Robert Rey: Honoré Daumier, London 1966, S. 66 (mit Abbildung auf S. 67).
- Karl Eric Maison: Honoré Daumier. Catalogue raisonné of the Paintings, Watercolours and Drawings, Bd. I: The Paintings, London 1968, S. 168, Nr. I-213, Abb. 117.

"L’avocat lisant" von Honoré Daumier zeigt uns einen Anwalt vor einem mächtigen Pfeiler im Inneren des Palais de Justice in Paris, dem Schauplatz zahlreicher Advokaten-Darstellungen Daumiers. Gehüllt in seine schwarze Robe und vertieft in die Lektüre der Unterlagen scheint sich der Anwalt unmittelbar vor dem Beginn eines Prozesses nochmals seiner Strategie zu versichern.

Gekonnt vermag es Daumier, die kantige Körperhaltung des Advokaten wiederzugeben, welche auch unter dessen weiter Robe disziplinierte Strenge und prätentiöse Selbstgefälligkeit ausstrahlt. Auch gelingt es ihm, durch die dramatische Lichtführung und die dadurch entstehenden starken hell-dunkel Kontraste, dem Gemälde eine unbehagliche Stimmung zu verleihen. Dies äussert sich zudem im Gesicht des Advokaten, das Daumier zu einer bedrohlich wirkenden Grimasse verzerrt. Links im Hintergrund sind zudem die Umrisse anderer Juristen zu erhaschen. Handelt es sich hier vielleicht sogar um die Prozessgegner des gezeigten Advokaten, die ihrerseits ihr Vorgehen nochmals abstimmen?

Diese erzeugte Spannung macht gemeinsam mit der pointierten Charakterisierung des Advokaten das vorliegende Gemälde zu einer der eindrücklichsten Arbeiten in Öl auf Leinwand, die Daumier im Laufe seiner mehr als 50 Jahre andauernden künstlerischen Laufbahn schuf. "L’avocat lisant" sticht insoweit aus jenem Themenkomplex innerhalb des Gesamtwerks von Daumier hervor, in welchem sich der Künstler insbesondere im Medium der Lithografie mit der satirischen Darstellung von Gesetztesvertretern befasst.

Aufgrund seines gesellschafts- und regierungskritischen Werkes wurde Daumier im Laufe seiner Schaffensphase vielfach zensiert und 1832 wegen einer satirischen Darstellung, die König Louis-Philippe I. (1773–1850) als Gargantua – den unersättlichen Fresser und Säufer – zeigt, sogar zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Auch deshalb begegnete Daumier zeit seines Lebens der französischen Justiz mit einer gewissen Abneigung, gleichzeitig aber auch mit einer Faszination gegenüber der Jurisprudenz und deren Akteuren.

Als Grundlage für seine kritische Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem im Paris des 19. Jahrhunderts dienten Honoré Daumier nicht nur seine eigenen Erfahrungen vor Gericht. Nach seiner Haftentlassung begann er zudem auch öffentlichen Gerichtsprozessen im Palais de Justice, das sich unweit seines auf der Île Saint-Louis gelegenen Ateliers befand, beizuwohnen. Daumier gelang es dabei, die Eigenheiten in den Pariser Gerichtssälen treffend einzufangen und bissig zu kommentieren. So hielt Daumier in seinem künstlerischen Werk nicht nur die teils absurde Theatralik bei der Prozessführung fest, er setzte sich auch mit dem Machtmissbrauch gelangweilter oder bestechlicher Richter auseinander. In den 1840er-Jahren etwa veröffentlichte Daumier die Lithographie-Serie mit dem Titel "Gens de Justice" (1845–1848), die sich äusserster Beliebtheit erfreute, seine Karriere als Künstler zusätzlich antrieb und ihn darin bestärkte, sich auch weiterhin in seinem künstlerischen Werk mit der Pariser Justiz zu befassen.

In Daumiers Lithographie "Grand escalier du Palais de justice" (Abb. 2), die 1848 im Rahmen dieser Serie erschienen ist, sind bereits einige bildkompositorische Elemente zu erkennen, die Daumier später in dem hier angebotenen Gemälde wieder aufgriff. So entdecken wir im Hintergrund rechts oberhalb der grossen Treppe einen Pfeiler, der demjenigen in unserem Gemälde ähnelt und dem dieselbe Funktion innerhalb der beiden Kunstwerke zukommt: Er verdeutlicht die Macht und die Stabilität des Rechtsstaates. Auch die Figur eines Juristen, die links im Hintergrund hastig die Treppe hinaufeilt, taucht in abgewandelter Form im vorliegenden Los auf. Hier sind es die Schemen zweier Advokaten, die dem Gemälde ein narratives Element verleihen und zusätzliche Spannung erzeugen.

Das etwa zwanzig Jahre nach der Lithographie-Serie "Gens de Justice" entstandene Werk "L'avocat lisant" kann somit als eine ölmalerische Weiterentwicklung und reifere Neuinterprätation der Advokatendarstellungen aus Daumiers druckgrafischem Werk betrachtet werden.

Neben der gewichtigen Position im Gesamtwerk Daumiers blickt sein Gemälde "L’avocat lisant" zudem auf eine illustre Provenienz und eine lange Ausstellungshistorie zurück. So wird angenommen, dass das Werk einst Teil der Sammlung von Jean-Baptiste Camille Corot (1796–1875) war, mit dem Daumier ab etwa 1847 eine innige Künstlerfreundschaft pflegte. Das Gemälde gehörte ausserdem zeitweise dem berühmten Kunstkritiker Arsène Alexandre (1859–1937), der ein ganzes Duzend an Hauptwerken Daumiers sein Eigen nennen konnte. Auch die einflussreiche Winterthurer Industriellenfamilie Bühler besass das Gemälde und zeigte sich verantwortlich dafür, dass das Werk Mitte des 20. Jahrhunderts auf zahlreichen wichtigen Ausstellungen in ganz Europa zu sehen war. Diese ausserordentliche Provenienz unterstreicht die herausragende Qualität des hier angebotenen Kunstwerks.

For the English version please visit our website.

DAUMIERS SCHATTENANWALT


"DER KÜNSTLER ERZÄHLT UNS HIER EINE GESCHICHTE".

Die Beweggründe und Techniken hinter diesem faszinierenden Werk von Honoré Daumier werden von Hagen Garhöfer und Karoline Weser erläutert.

CHF 150 000 / 200 000 | (€ 154 640 / 206 190)