Lot 3005 - A202 Gemälde Alter Meister - Freitag, 23. September 2022, 14.00 Uhr
MEISTER VON SAN MINIATO (LORENZO DI GIOVANNI DI NOFRI)
(vor 1465 Florenz 1512)
Maria mit Kind und den Heiligen Franziskus von Assisi und Julianus Hospitator.
Tempera auf Holz.
69,5 × 41,5 cm.
Provenienz:
- Sammlung Han Coray (1880–1974), Erlenbach (als Francesco Pesellino).
- Auktion Wertheim, Berlin, Sammlung Han Coray, 1.10.1930, Los 4 (als Francesco Botticini).
- Auktion Fischer, Luzern, 2.-5.9.1942, Los 1140.
- Schweizer Privatbesitz.
Literatur:
- Raimond van Marle: The Development of Italian Schools of Painting, Bd. XVI, Den Haag 1937, S. 198 (als Master of San Miniato).
- Bernard Berenson: Italian Pictures of the Renaissance. Florentine School, Bd. I, London 1963, S. 147, Tafel 1050 (als Master of San Miniato).
- Serenella Castri, in: Gigetta Dalli Regoli (hrsg.): Il Maestro di San Miniato. Lo stato degli studi, i problemi, le risposte della filologia, Pisa 1988, S. 220, Kat.-Nr. 16, Abb. 139.
Mit einer ausführlichen kunsthistorischen Analyse von Prof. Gaudenz Freuler, Juli 2022.
Vorliegendes Tafelbild zeigt die Mutter und Kind im Beisein vom Heiligen Franziskus von Assisi und dem Heiligen Julian. Über ihr schwebt als Zeichen der barmherzigen Gnade Gottes die Heilige Dreifaltigkeit in Form eines schwebenden Gnadenstuhls. Das florentinische Tafelbild verkörpert den in der Florentiner Renaissance beliebten Typus des “colmo da camera”. Derartige Tafelbilder, meist in standardisierten Grössen von ca. 60–70 cm Höhe hergestellt, wurden meist in die Schlafzimmer der begüterten Bürgerhäuser gehängt, wo sie der privaten Andacht dienten. Inhaltlich verbildlichten sie meistens allusiv mit symbolischen Einschüben die göttliche Gnade und die Barmherzigkeit Mariens dank ihrer göttlichen Mutterschaft und spendeten so dem Andächtigen vor dem Bild Trost.
Der Stil des vorliegenden auch schon Francesco Botticini zugeschriebenen Gemäldes lässt kaum Zweifel offen, dass es sich um ein Werk des sogenannten Meisters von San Miniato handelt, dem es auch seit Raimond Van Marle (siehe Literatur) zugewiesen wird. Seinen Notnamen erhielt der lange unidentifiziert gebliebene Florentiner Maler aufgrund seines Altarbildes der Jungfrau mit Kind zwischen den Heiligen Sebastian, Johannes dem Täufer, Martin und Rochus in der Kirche Santi Jacopo e Lucia in San Miniato, einem Städtchen zwischen Florenz und Pisa. Dieser Künstler wurde kürzlich als Giovanni di Lorenzo di Nofri identifiziert (siehe Anna Maria Bernacchioni: Tradizione e arcaismi. Le forme della tradizione: pittori fra continuità e innovazioni, in: Maestri e botteghe. Pittura a Firenze alla fine del Quattrocento, Ausst.-Kat. Mina Gregori / Antonio Paolucci / Cristina Acidini Luchinat (hrsg.), Palazzo Strozzi, Florenz, 16.10.1992–10.1.1993, S. 178–179 sowie Anna Maria Bernacchioni: Pale d’altare della seconda metà del Quattrocento: Committenza e recupero delle identità artistiche, in: Antonia D’Aniello (hrsg): Pittura e scultura nella chiesa di San Domenico a San Miniato. Studi e restauri, Pisa 1998, S. 37–41). Dieser war ein Schüler von Neri di Bicci (1418–1492), in dessen Werkstatt er 1465 bis 1466 nachgewiesen ist (siehe Bruno Santi (hrsg.): Neri di Bicci, Le Ricordanze (10 March 1453–24 April 1475), Pisa 1976, S. 244–245, 264, 268–269, 272). 1472 machte er sich unabhängig und führte eine eigene Malerwerkstatt "al canto dei Servi", an der Ecke der Piazza gegenüber der Basilika Santissima Annunziata in Florenz (siehe Bernacchioni 1992, S. 179). Im Vergleich zur Malkunst seines Lehrers, Neri di Bicci, ist Giovanni di Lorenzos Malstil Ausdruck ausgefeilter, und nimmt Bezüge auf die Kunst der führenden Florentiner Zeitgenossen auf. Er legt seinen Fokus auf eine klarere Chiaroscuro Modellierung seiner Figuren und generell auf die klarere Artikulierung von Volumen und Konturen. Zugleich orientiert er sich an Filippo Lippis Figurenrepertoire, das seinen Madonnen- und Heiligengesichtern eine zuweilen androgyne Zartheit verleiht.
Die künstlerischen Wurzeln in Filippo Lippis Kunst sind auch in vorliegendem Tafelbild auszumachen, doch machen sich hier auch Elemente einer neueren Kunstrichtung bemerkbar, die aus der Tradition Andrea Verrocchios geschöpfte Tendenzen erkennen lassen, die in den 1470er-Jahren auch vom frühen Sandro Botticelli (1445–1510) und den mit ihm wirkenden Filippino Lippi (1457–1504) geteilt wurden. Angesprochen sind Andrea Verrocchios (1435–1488) künstlerische Tendenzen, die dieser mit seinem als Bildhauer besonders ausgeprägten Sinn für die Dreidimensionalität auch auf die Malerei übertrug und eine Malweise präsentierte, die sich auf eine stärkere Definition von Volumen mit deutlicher akzentuiertem Hell-Dunkel ausrichtete, welche gegen 1470 in der florentinischen Malerei das Mass aller Dinge werden sollte. Diese Angleichung an die Kunst Andrea Verrocchios auf dem Substrat der von Filippo Lippi (1406–1469) angeregten Kunst ist auch im vorliegenden Werk des Meisters von San Miniato alias Lorenzo di Giovanni erkennbar. Es verbindet sich mit Andrea Verrocchios und Sandro Botticellis zu Beginn der 1470er-Jahre gemalten Werken, beispielsweise mit Botticellis Madonnenbild im Musée du Petit Palais in Avignon (Inv.-Nr. MI 480) oder Verrocchios Volterra Madonna in der Londoner National Gallery (Inv.-Nr. NG296). Mit Letzterem teilt unser Maler auch das alte, bereits im 14. Jh. bekannte Motiv des an den Fingern lutschenden Kindes. Wenngleich chronologische Anhaltspunkte für das Œuvre unseres Malers weitestgehend fehlen, so lässt sich für unser Bild aufgrund seiner Stilbezüge zu Verrocchios und Botticellis Werken um 1470 eine Datierung gegen 1475 postulieren.
Wir danken Prof. Gaudenz Freuler für seine wissenschaftliche Unterstützung bei der Katalogisierung dieses Gemäldes.
- Sammlung Han Coray (1880–1974), Erlenbach (als Francesco Pesellino).
- Auktion Wertheim, Berlin, Sammlung Han Coray, 1.10.1930, Los 4 (als Francesco Botticini).
- Auktion Fischer, Luzern, 2.-5.9.1942, Los 1140.
- Schweizer Privatbesitz.
Literatur:
- Raimond van Marle: The Development of Italian Schools of Painting, Bd. XVI, Den Haag 1937, S. 198 (als Master of San Miniato).
- Bernard Berenson: Italian Pictures of the Renaissance. Florentine School, Bd. I, London 1963, S. 147, Tafel 1050 (als Master of San Miniato).
- Serenella Castri, in: Gigetta Dalli Regoli (hrsg.): Il Maestro di San Miniato. Lo stato degli studi, i problemi, le risposte della filologia, Pisa 1988, S. 220, Kat.-Nr. 16, Abb. 139.
Mit einer ausführlichen kunsthistorischen Analyse von Prof. Gaudenz Freuler, Juli 2022.
Vorliegendes Tafelbild zeigt die Mutter und Kind im Beisein vom Heiligen Franziskus von Assisi und dem Heiligen Julian. Über ihr schwebt als Zeichen der barmherzigen Gnade Gottes die Heilige Dreifaltigkeit in Form eines schwebenden Gnadenstuhls. Das florentinische Tafelbild verkörpert den in der Florentiner Renaissance beliebten Typus des “colmo da camera”. Derartige Tafelbilder, meist in standardisierten Grössen von ca. 60–70 cm Höhe hergestellt, wurden meist in die Schlafzimmer der begüterten Bürgerhäuser gehängt, wo sie der privaten Andacht dienten. Inhaltlich verbildlichten sie meistens allusiv mit symbolischen Einschüben die göttliche Gnade und die Barmherzigkeit Mariens dank ihrer göttlichen Mutterschaft und spendeten so dem Andächtigen vor dem Bild Trost.
Der Stil des vorliegenden auch schon Francesco Botticini zugeschriebenen Gemäldes lässt kaum Zweifel offen, dass es sich um ein Werk des sogenannten Meisters von San Miniato handelt, dem es auch seit Raimond Van Marle (siehe Literatur) zugewiesen wird. Seinen Notnamen erhielt der lange unidentifiziert gebliebene Florentiner Maler aufgrund seines Altarbildes der Jungfrau mit Kind zwischen den Heiligen Sebastian, Johannes dem Täufer, Martin und Rochus in der Kirche Santi Jacopo e Lucia in San Miniato, einem Städtchen zwischen Florenz und Pisa. Dieser Künstler wurde kürzlich als Giovanni di Lorenzo di Nofri identifiziert (siehe Anna Maria Bernacchioni: Tradizione e arcaismi. Le forme della tradizione: pittori fra continuità e innovazioni, in: Maestri e botteghe. Pittura a Firenze alla fine del Quattrocento, Ausst.-Kat. Mina Gregori / Antonio Paolucci / Cristina Acidini Luchinat (hrsg.), Palazzo Strozzi, Florenz, 16.10.1992–10.1.1993, S. 178–179 sowie Anna Maria Bernacchioni: Pale d’altare della seconda metà del Quattrocento: Committenza e recupero delle identità artistiche, in: Antonia D’Aniello (hrsg): Pittura e scultura nella chiesa di San Domenico a San Miniato. Studi e restauri, Pisa 1998, S. 37–41). Dieser war ein Schüler von Neri di Bicci (1418–1492), in dessen Werkstatt er 1465 bis 1466 nachgewiesen ist (siehe Bruno Santi (hrsg.): Neri di Bicci, Le Ricordanze (10 March 1453–24 April 1475), Pisa 1976, S. 244–245, 264, 268–269, 272). 1472 machte er sich unabhängig und führte eine eigene Malerwerkstatt "al canto dei Servi", an der Ecke der Piazza gegenüber der Basilika Santissima Annunziata in Florenz (siehe Bernacchioni 1992, S. 179). Im Vergleich zur Malkunst seines Lehrers, Neri di Bicci, ist Giovanni di Lorenzos Malstil Ausdruck ausgefeilter, und nimmt Bezüge auf die Kunst der führenden Florentiner Zeitgenossen auf. Er legt seinen Fokus auf eine klarere Chiaroscuro Modellierung seiner Figuren und generell auf die klarere Artikulierung von Volumen und Konturen. Zugleich orientiert er sich an Filippo Lippis Figurenrepertoire, das seinen Madonnen- und Heiligengesichtern eine zuweilen androgyne Zartheit verleiht.
Die künstlerischen Wurzeln in Filippo Lippis Kunst sind auch in vorliegendem Tafelbild auszumachen, doch machen sich hier auch Elemente einer neueren Kunstrichtung bemerkbar, die aus der Tradition Andrea Verrocchios geschöpfte Tendenzen erkennen lassen, die in den 1470er-Jahren auch vom frühen Sandro Botticelli (1445–1510) und den mit ihm wirkenden Filippino Lippi (1457–1504) geteilt wurden. Angesprochen sind Andrea Verrocchios (1435–1488) künstlerische Tendenzen, die dieser mit seinem als Bildhauer besonders ausgeprägten Sinn für die Dreidimensionalität auch auf die Malerei übertrug und eine Malweise präsentierte, die sich auf eine stärkere Definition von Volumen mit deutlicher akzentuiertem Hell-Dunkel ausrichtete, welche gegen 1470 in der florentinischen Malerei das Mass aller Dinge werden sollte. Diese Angleichung an die Kunst Andrea Verrocchios auf dem Substrat der von Filippo Lippi (1406–1469) angeregten Kunst ist auch im vorliegenden Werk des Meisters von San Miniato alias Lorenzo di Giovanni erkennbar. Es verbindet sich mit Andrea Verrocchios und Sandro Botticellis zu Beginn der 1470er-Jahre gemalten Werken, beispielsweise mit Botticellis Madonnenbild im Musée du Petit Palais in Avignon (Inv.-Nr. MI 480) oder Verrocchios Volterra Madonna in der Londoner National Gallery (Inv.-Nr. NG296). Mit Letzterem teilt unser Maler auch das alte, bereits im 14. Jh. bekannte Motiv des an den Fingern lutschenden Kindes. Wenngleich chronologische Anhaltspunkte für das Œuvre unseres Malers weitestgehend fehlen, so lässt sich für unser Bild aufgrund seiner Stilbezüge zu Verrocchios und Botticellis Werken um 1470 eine Datierung gegen 1475 postulieren.
Wir danken Prof. Gaudenz Freuler für seine wissenschaftliche Unterstützung bei der Katalogisierung dieses Gemäldes.
CHF 20 000 / 30 000 | (€ 20 620 / 30 930)
Verkauft für CHF 43 000 (inkl. Aufgeld)
Angaben ohne Gewähr