Lot 3053 - Z29 Schweizer Kunst - Freitag, 03. Dezember 2010, 14.00 Uhr
FERDINAND HODLER
(Bern 1853–1918 Genf)
Portrait der Jeanne Charles. Um 1901.
Öl auf Papier auf Leinwand.
59 x 47 cm.
Dieses Gemälde ist im Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft als eingenhändiges Werk von Ferdinand Hodler registiert. Provenienz: - Berthe Hodler, bis 1924. - Galerie Bollag, Zürich. - Galerie Bettie Thommen, Basel, 1941. - Privatsammlung Schweiz. Ausstellung: Kunsthaus Zürich: Ferdinand Hodler, Retrospektive, Zürich 1917, Nr. 283. Literatur: Brüschweiler, Jura: Eine unbekannte Hodler-Sammlung aus Sarajewo, Bern 1978. Für einmal ist es nicht die Bewegung oder die Einheit zwischen Mensch und Natur, die Ferdinand Hodler in seinem "Portrait der Jeanne Charles" interessiert. Diese Frau nimmt keinen Kontakt auf, weder zum Betrachter, noch zu höheren Mächten oder gar dem All. Sie ist in Gedanken versunken, autonom und ganz auf sich konzentriert, wie uns die leicht geschlossenen Augen, der gerade Blick auf die linke Bildseite und die locker ineinander gelegten Hände verraten. Hodler hat Jeanne Charles in einem sehr intimen Moment festgehalten. In ihrer eigenen Persönlichkeit, ohne Funktion und entkleidet jeder Rolle stellt er sie dar. Das ist insofern bemerkenswert, als diese Frau in einer ganzen Reihe seiner berühmtesten symbolistischen Bilder Unsterblichkeit erlangt hat. In der "Empfindung" von 1901 mit vier Figuren ist sie ebenso zu sehen wie als Einzelfigur der "Abendruhe" (1904) und später in den Grossformaten "Heilige Stunde" und "Blick in die Unendlichkeit". Über einen Zeitraum von 15 Jahren, von 1901 bis 1916, stand die 1874 in Lyon geborene Jeanne Charles für Ferdinand Hodler Modell. Allerdings blieb ihre Beziehung nicht auf das Berufliche beschränkt, sie wurden Geliebte. Dabei waren damals beide verheiratet; Hodler seit 1898 mit der Genfer Bürgerstochter Berthe Jacques, und Jeanne Charles mit dem Musiker Antoine Cerani, der 1914 starb. Fünf Jahre später heiratete sie den Bosnier Mehmed Cišic, der in diplomatischen Diensten stand. Nach Aufenthalten in den USA und Kanada liess sich das Paar in Belgrad nieder, Mitte der 1950er Jahre starben beide in Mostar (heutiges Bosnien-Herzegowina). Mit sich um die Welt geführt hat Jeanne Charles Cerani Cišic ein Konvolut von ungefähr 200 Hodler-Werken, darunter Gemälde und zahlreiche Zeichnungen, die der Maler ihr während ihrer gemeinsamen Zeit überlassen hatte. Die heutige Kunstgalerie von Bosnien und Herzegowina in Sarajevo erwarb 1966 zahlreiche Werke aus dem Cišic-Nachlass, der Grund, warum man dort über eine beachtliche Hodler-Sammlung verfügt. Unser Portrait ging allerdings nicht auf Jeanne Charles über: Hodler behielt dieses Bildnis seiner Geliebten für sich. Nach seinem Tod 1918 verblieb es bis 1924 im Besitz von dessen Witwe Berthe. Pikanterweise hatte Hodler sie und Jeanne Charles (und seine beiden anderen bevorzugten Modelle Clara Pasche-Battier und Gertrud Müller) bereits im Monumentalgemälde "Blick in die Unendlichkeit" vereint, das er als Auftragsarbeit für das Treppenhaus des Kunsthauses Zürich geschaffen hatte und das dort seit 1917 hängt. Obwohl Hodler, wie bereits angedeutet, in dem hier angebotenen Bild die "private" Jeanne Charles portraitiert, wird im Aufbau des Gemäldes ein Prinzip deutlich, das er zur Grundlage jeder ausgewogenen Komposition erhoben hatte und das er überall erkannte, in einer Allee von Bäumen ebenso wie in der Spiegelung einer Gebirgskette in einem See, ja in der Gestalt des Menschen an sich. Es ist der von ihm so genannte "Parallelismus", die Wiederholung von identischen oder ähnlichen Formen. Um jene Harmonie der Anordnung von Elementen zu erreichen, platzierte er unser Modell zwischen zwei weisse Farbflächen rechts und links und liess er ihre beiden Arme zunächst vertikal, nach unten dann diagonal, also parallel zueinander verlaufen. Ebenso ist die Geste der Hände zu deuten, deren Finger sich um- und ineinander fügen und so den Eindruck von Gelassenheit, Geschlossenheit und Ruhe vermitteln. Das hier angebotene Portrait ist nicht signiert und auch nicht ganz ausgearbeitet. Diese letztgenannte Tatsache erlaubt uns einzigartige Einblicke in die Werkgenese und in die Arbeitsweise Hodlers. Deutlich tritt insbesondere in der unteren Bildhälfte das zwischenzeitlich gebräunte Papier hervor, auf das Hodler zunächst mit Bleistift, dann mit weisser und schwarzer Farbe die Umrisse seines Modells skizzierte. Den dunklen Hintergrund und die hellen Flächen rechts und links lasierte er flüchtig; sie interessierten ihn wohl eher weniger. Dagegen arbeitete er die zentralen, für ihn wichtigen Partien wie Gesicht, Arme und Hände fein aus, besondere Mühe verwendet er auf das Inkarnat. "Unvollendet" im Wortsinne blieb dieses Werk aber nicht. Für Hodler enthielt es bereits alles, worauf es ihm ankam. Die Tatsache, dass er dieses Portrait für die grosse Werk-Retrospektive zur Verfügung stellte, die 1917 noch zu seinen Lebenszeiten im Zürcher Kunsthaus veranstaltet wurde, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es für ihn ein wichtiges und vollwertiges Werk darstellte. Es ist das Zeugnis der Vertraulichkeit zwischen Maler und Modell und Geliebten, das ihr erlaubte, sich in seiner Gegenwart ganz zu entspannen, und ihm, ohne Zwang zur Perfektion, aber im Vertrauen auf seine malerischen Fähigkeiten die Essenz ihrer Person festzuhalten. Wir danken Herrn Paul Müller vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft Zürich für seine Hinweise zur Provenienz dieses Portraits.
CHF 80 000 / 120 000 | (€ 82 470 / 123 710)
Verkauft für CHF 384 000 (inkl. Aufgeld)
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