Lot 1006 - A208 Decorative Arts - Donnerstag, 21. März 2024, 13.30 Uhr
KLAGEFRAU, sog. "Orante"
Wohl Canosa, Apulien, 3. Jh. v. Chr.
Terrakotta gehöhlt mit Spuren von Engobe. Rechteckige Öffnung im Rückenbereich. Aufrechte, ganzfigurige leicht im Kontrapost stehende Frauenfigur in einem Chiton gehüllt, darüber ein bis zur Hüfte fallendes Himation. Die Arme angewinkelt im Klagegestus (linke Hand unvollständig, rechter Unterarm unvollständig). Langer Hals, ausdrucksstarke Gesichtszüge, schulterlanges gescheiteltes Haar.
H 92 cm.
Repariert, aus mehreren Stücken zusammengesetzt. Ursprüngliche Durchbohrungen. Rechte Hand fehlt, linker Arm ergänzt, Hand unvollständig. Ausbrüche im Fussbereich.
Provenienz:
- Privatsammlung Pino Donati, Molinazzo di Monteggio, 1950/60er Jahre (gem. Donati Arte Classica).
- Donati Arte Classica, Lugano 2010 (Rechnungskopie vorhanden).
- Galerie Günther Puhze, Basel, November 2013 (Rechnungskopie vorhanden).
- Sammlung Dr. med. Sylvia Legrain, direkt von obiger Galerie erworben.
Diese Terrakottafiguren stellen Frauen in verschiedenen Gebets-, Affektions- oder Trauergesten dar und werden deshalb in der französischen Fachliteratur als "orantes" oder "pleureses" betitelt. Die Figuren wurden in kleinen Gruppen von jeweils vier bis sechs Stücken in aristokratischen Grabkammern im apulischen Canosa in Süditalien entdeckt. Der Genfer Archäologe Waldemar Deonna war mit seiner Publikation "Les statues de terre cuite dans l’antiquité" (Paris, 1907/1908) der erste, der sich der Bedeutung dieser Figuren bewusstwurde. Die Grabplastiken entstanden im späten vierten und frühen dritten Jahrhundert v. Chr. Sie sind im Vergleich zu den meisten griechischen Terrakottafiguren ungewöhnlich gross. Weltweit gibt es weniger als 50 Exponate (die meisten davon in Museen), welche von der Wissenschaft als antik anerkannt sind. Erst in den letzten Jahrzehnten haben die Figuren aus Canosa vermehrt die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich gezogen. Violaine Jeammet, Kuratorin für griechische, etruskische und römische Altertümer im Musée du Louvre, widmet sich intensiv diesen charakteristischen Klagefrauen. In ihrer Publikation "Quelques particularités de la production des pleureuses canosines en terre cuite" skizziert sie anhand einer technischen Analyse, welche im Wesentlichen die Herstellungsweise reflektiert, drei Hauptgruppen Canosiner Klagefrauen. Die Vielfalt der Kleidung (Himation, Chiton bzw. kurz oder lang), Frisuren (Zöpfe, Scheitelfrisur), Mimik (ernst, aufgelöst, traurig etc.) und Gesten ermöglicht es ihr noch feinere ikonografische Gruppierungen vorzunehmen. Frederike van der Wielen-van Ommeren erwähnt in einem Artikel von 1999 wohl die vorliegende Klagefrau, welche 1981 auf dem Schweizer Kunstmarkt auftauchte. Sie schreibt die Figur einer Gruppe von Klagefrauen mit folgenden Merkmalen zu: "Gruppe II, Serie 4 kurzes bis mittellanges Himation, das bedeckt von einer Tunika ausser unter den Armen und das zwischen den Armen asymmetrische Faltenwürfe bildet; das Haar fällt in einer oder drei Strähnen herab" (Vgl. Frederike van der Wielen-van Ommeren, "orantes canosines", in: Genève et l'Italie, Genf 1999, S. 56, Nr. 23).
In Anbetracht der begrenzten Produktion ist es wahrscheinlich, dass die Canosiner Klagefrauen in derselben Werkstatt oder zumindest in eng miteinander verbundenen Werkstätten hergestellt wurden. Die Unterschiede im Aussehen zeigen wohl die Handschrift einzelner Handwerker. Die farbige Engobe belebte die Figuren und erweckte sie gewissermassen zum Leben. Über die genaue Funktion der Klagefrauen im Totenkult wird weiterhin diskutiert. Die Löcher, welche im Bereich der Basis sichtbar sind, deuten auch auf eine Benutzung als Prozessionsstatuen bei Begräbnissen hin, indem die Statuen durch eine Holzkonstruktion geschultert werden konnten. Im Inneren des Grabes waren die Figuren um die Totenbare angeordnet, wo sie als ständige Begleiterinnen des Verstorbenen fungierten und durch ständiges Beten und Klagen den sicheren Übergang der Seele ins Jenseits gewährleisten sollten.
Einige eindrucksvolle Exponate befinden sich in namhaften Museen und können als Vergleiche herangezogen werden. Was die Raffung bzw. der Faltenwurf des Gewands und die angewinkelten Arme gen Himmel betrifft, kann unsere Plastik mit einer Vierergruppe aus dem J. Paul Getty Museum verglichen werden (Inv.-Nr. 85.AD.76.1–4). Proportionen, Mimik, Pose und Details wie das schulterlange in zwei Strängen mittelgescheitelte Haar einer im Pariser Louvre befindlichen Pleureuse (Inv.-Nr. CA 7500) zeigt verblüffende Ähnlichkeiten zu unserer.
Bibliographie:
- Violaine Jeammet, "Quelques particularités de la production des pleureuses canosines en terre cuite", Revue Archéologique, 2003/2, S. 255-292.
- Ruth Allen, "Science Reveals New Clues about Mysterious Ancient Sculptures of Mourning Women", The J. Paul Getty Museum, 2019.
- Mollard-Besques IV-I, Nr. D4116, Tafel 156a und D4116 Tafel 156c.
- Frederike van der Wielen-van Ommeren, "orantes canosines", in: Angela Kahn-Laginestra (Hg.) Genève et l'Italie, Genf 1999, S. 44-65.
Provenienz:
- Privatsammlung Pino Donati, Molinazzo di Monteggio, 1950/60er Jahre (gem. Donati Arte Classica).
- Donati Arte Classica, Lugano 2010 (Rechnungskopie vorhanden).
- Galerie Günther Puhze, Basel, November 2013 (Rechnungskopie vorhanden).
- Sammlung Dr. med. Sylvia Legrain, direkt von obiger Galerie erworben.
Diese Terrakottafiguren stellen Frauen in verschiedenen Gebets-, Affektions- oder Trauergesten dar und werden deshalb in der französischen Fachliteratur als "orantes" oder "pleureses" betitelt. Die Figuren wurden in kleinen Gruppen von jeweils vier bis sechs Stücken in aristokratischen Grabkammern im apulischen Canosa in Süditalien entdeckt. Der Genfer Archäologe Waldemar Deonna war mit seiner Publikation "Les statues de terre cuite dans l’antiquité" (Paris, 1907/1908) der erste, der sich der Bedeutung dieser Figuren bewusstwurde. Die Grabplastiken entstanden im späten vierten und frühen dritten Jahrhundert v. Chr. Sie sind im Vergleich zu den meisten griechischen Terrakottafiguren ungewöhnlich gross. Weltweit gibt es weniger als 50 Exponate (die meisten davon in Museen), welche von der Wissenschaft als antik anerkannt sind. Erst in den letzten Jahrzehnten haben die Figuren aus Canosa vermehrt die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sich gezogen. Violaine Jeammet, Kuratorin für griechische, etruskische und römische Altertümer im Musée du Louvre, widmet sich intensiv diesen charakteristischen Klagefrauen. In ihrer Publikation "Quelques particularités de la production des pleureuses canosines en terre cuite" skizziert sie anhand einer technischen Analyse, welche im Wesentlichen die Herstellungsweise reflektiert, drei Hauptgruppen Canosiner Klagefrauen. Die Vielfalt der Kleidung (Himation, Chiton bzw. kurz oder lang), Frisuren (Zöpfe, Scheitelfrisur), Mimik (ernst, aufgelöst, traurig etc.) und Gesten ermöglicht es ihr noch feinere ikonografische Gruppierungen vorzunehmen. Frederike van der Wielen-van Ommeren erwähnt in einem Artikel von 1999 wohl die vorliegende Klagefrau, welche 1981 auf dem Schweizer Kunstmarkt auftauchte. Sie schreibt die Figur einer Gruppe von Klagefrauen mit folgenden Merkmalen zu: "Gruppe II, Serie 4 kurzes bis mittellanges Himation, das bedeckt von einer Tunika ausser unter den Armen und das zwischen den Armen asymmetrische Faltenwürfe bildet; das Haar fällt in einer oder drei Strähnen herab" (Vgl. Frederike van der Wielen-van Ommeren, "orantes canosines", in: Genève et l'Italie, Genf 1999, S. 56, Nr. 23).
In Anbetracht der begrenzten Produktion ist es wahrscheinlich, dass die Canosiner Klagefrauen in derselben Werkstatt oder zumindest in eng miteinander verbundenen Werkstätten hergestellt wurden. Die Unterschiede im Aussehen zeigen wohl die Handschrift einzelner Handwerker. Die farbige Engobe belebte die Figuren und erweckte sie gewissermassen zum Leben. Über die genaue Funktion der Klagefrauen im Totenkult wird weiterhin diskutiert. Die Löcher, welche im Bereich der Basis sichtbar sind, deuten auch auf eine Benutzung als Prozessionsstatuen bei Begräbnissen hin, indem die Statuen durch eine Holzkonstruktion geschultert werden konnten. Im Inneren des Grabes waren die Figuren um die Totenbare angeordnet, wo sie als ständige Begleiterinnen des Verstorbenen fungierten und durch ständiges Beten und Klagen den sicheren Übergang der Seele ins Jenseits gewährleisten sollten.
Einige eindrucksvolle Exponate befinden sich in namhaften Museen und können als Vergleiche herangezogen werden. Was die Raffung bzw. der Faltenwurf des Gewands und die angewinkelten Arme gen Himmel betrifft, kann unsere Plastik mit einer Vierergruppe aus dem J. Paul Getty Museum verglichen werden (Inv.-Nr. 85.AD.76.1–4). Proportionen, Mimik, Pose und Details wie das schulterlange in zwei Strängen mittelgescheitelte Haar einer im Pariser Louvre befindlichen Pleureuse (Inv.-Nr. CA 7500) zeigt verblüffende Ähnlichkeiten zu unserer.
Bibliographie:
- Violaine Jeammet, "Quelques particularités de la production des pleureuses canosines en terre cuite", Revue Archéologique, 2003/2, S. 255-292.
- Ruth Allen, "Science Reveals New Clues about Mysterious Ancient Sculptures of Mourning Women", The J. Paul Getty Museum, 2019.
- Mollard-Besques IV-I, Nr. D4116, Tafel 156a und D4116 Tafel 156c.
- Frederike van der Wielen-van Ommeren, "orantes canosines", in: Angela Kahn-Laginestra (Hg.) Genève et l'Italie, Genf 1999, S. 44-65.
CHF 20 000 / 30 000 | (€ 20 620 / 30 930)
Verkauft für CHF 12 500 (inkl. Aufgeld)
Angaben ohne Gewähr