ANKER, ALBERT
* 1.4.1831 INS, † 16.7.1910 INS
Genremaler. Kindermotive, Bildnis und Stillleben.
Geboren als Sohn des Tierarztes Samuel Anker und der Marianne Elisabeth Gatschet in Ins. Zur Zeit von Ankers Geburt ist sein Vater Mitglied der neuen Bernischen Verfassungsgebenden Versammlung. Der Grossvater väterlicherseits, Rudolf Anker, war ebenfalls Tierarzt, der Grossvater mütterlicherseits Meier und Amtstatthalter in Ins.
1836 zieht die Familie nach Neuenburg, wo Anker die Schule besucht. Erster Zeichenunterricht bei Frédéric-Wilhelm Moritz. Zu seinen Schulfreunden gehört Auguste Bachelin; gemeinsam nehmen sie Privatunterricht im Zeichnen bei Louis Wallinger. Ab 1849 Gymnasium in Bern, 1851 Maturität. 1849–1854 Mitglied der Zofinger Studentenverbindung. 1851 erste Reise nach Paris; Kopien Alter Meister im Louvre. Beginn eines Theologiestudiums, das er ab 1853 an der Universität Halle fortsetzt. Ende 1853 Einwilligung des Vaters zum Abbruch des Studiums, um Maler zu werden. 1854 zieht Anker nach Paris; Unterricht beim Schweizer Klassizisten Charles Gleyre, 1855–1860 auch an der École Impériale et Spéciale des Beaux-Arts. Zu seinen Studienkollegen gehören unter anderen Alexandre-Auguste Hirsch sowie der Elsässer François Ehrmann, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet.
Ab 1856 regelmässige Beteiligung an den Turnus-Ausstellungen des Schweizerischen Kunstvereins. 1859 wird er mit dem Werk Dorfschule im Schwarzwald (1858) am Pariser Salon zugelassen; bis 1885 ist er dort meistens mit einem oder zwei Gemälden vertreten. Im elterlichen Haus in Ins richtet er sich im Dachgeschoss ein Atelier ein. 1860 Tod des Vaters; Anker ist erstmals mit vier Werken an der Exposition de la Société des Amis des Arts in Neuchâtel vertreten, an der er bis 1905 regelmässig teilnimmt. Im Herbst 1861 zusammen mit Ehrmann erste Italienreise, die aufgrund einer Typhuserkrankung in Florenz abgebrochen werden muss. 1863 «Mention honorable» am Pariser Salon. 1864 Heirat mit Anna Ruefli, einer Schulfreundin von Ankers verstorbener Schwester Luise. In der Folge Geburt von insgesamt sechs Kindern, von denen zwei in jungen Jahren sterben.
1866 gewinnt Anker im Pariser Salon für die Bilder Schlafendes Mädchen im Walde (1865) und Schreibunterricht (1865) eine goldene Medaille. Von 1866 bis 1892 Tätigkeit für das Pariser Fayence-Geschäft der Gebrüder Deck. Regelmässiger Sommeraufenthalt in Ins, im Winter in Paris. 1870–1874 Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern. 1873–1883 Mitarbeiter der Zeitschrift Le Magasin pittoresque. 1878 Mitorganisator der schweizerischen Abteilung der Pariser Weltausstellung, Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion. Im Juni 1882 Reise nach Brüssel, Antwerpen, Gent und Lille. Während der Wintermonate 1883–1884 aquarelliert Anker an der Akademie Colarossi Akte und Kostümstudien. Zwischen 1887 und 1891 mehrere Italienreisen. 1889–1893 und 1895–1898 Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission. 1890 Aufgabe des Pariser Wohnsitzes. Auftrag des Neuenburger Verlegers Frédéric Zahn, Illustrationen zu dessen Gotthelf-Ausgabe zu liefern, eine Arbeit, die ihn während mehrerer Jahre beansprucht. 1891–1901 Mitglied der Eidgenössischen Kommission der Gottfried Keller-Stiftung. 1893–1899 Sekretär der Schulkommission in Ins. 1897 Mitglied der Jury für die Schweizerische Abteilung der Internationalen Kunstausstellung in München. 1899 letzte Reise nach Paris. 1900 Verleihung des Doctor honoris causa durch die Universität Bern. Bei Frédéric Zahn, La Chaux-de-Fonds, erscheint ein Album Ankers mit Heliogravüren von 40 Werken.
Im September 1901 erleidet der Künstler einen Schlaganfall, der seine rechte Hand vorübergehend lähmt. Zu Lebzeiten Ankers fand nie eine Einzelausstellung statt; im November 1910 organisiert das Musée d’art et d’histoire in Neuchâtel die erste Gedächtnisausstellung. Die Anker-Rezeption im Ausland ist spätestens seit der erfolgreichen Ausstellung in vier Museen Japans im Gange. Eine umfangreiche Retrospektive fand 2010–2011 zum 100. Todestag Ankers im Kunstmuseum Bern und im Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten in Winterthur statt.
Die bis heute ungeschmälerte Beliebtheit von Ankers Werk basiert auf einer allgemeinen Verständlichkeit, weshalb der Künstler häufig als «Nationalmaler» vereinnahmt wird. Schon als Gymnasiast hatte er an seinen Schulfreund Auguste Bachelin auf die Frage, was Kunst sei, geschrieben: «Zuerst muss man sich in seiner Phantasie ein Ideal bilden, dann muss man dieses Ideal den Leuten zugänglich machen». Unbeirrt fühlte er sich diesem Vorsatz verpflichtet, was ihn zum populärsten Schweizer Genremaler des 19. Jahrhunderts machen sollte. Bereits während der Schul- und Studienzeit schuf Anker eine Anzahl schlichter Porträts von Freunden und Familienmitgliedern; zu Beginn stellte er auch Kopien her, besonders nach Werken von Delacroix, Rembrandt und den Venezianern. Sein erstes öffentlich ausgestelltes Gemälde, Hiob und seine Freunde (1856), gehört zu einer Reihe von frühen Darstellungen aus Bibel und Geschichte (Der verlorene Sohn, 1858; Der Reformator Jean Calvin, 1858; Luther im Kloster von Erfurt, 1861) – Werke, die inhaltlich eine reife Selbstreflexion beweisen. Bald fand Anker aber zu jenen Bildthemen, die seiner Kunst fortan den unverkennbaren Stempel gaben: Menschen einer ländlichen Gemeinschaft bei alltäglichen Verrichtungen und Begegnungen.
In mehrfigurigen Werken wie etwa der Gemeindeversammlung (1857) und der 1858 durch einen Aufenthalt im Schwarzwald angeregten Darstellung einer Dorfschule ist der dörfliche Alltag auf eine unprätentiöse Weise geschildert, die jeglicher idealistischen, akademisch geschulten Gliederung entbehrt. Zwar finden sich thematische Parallelen zu Altersgenossen, insbesondere zu Franz von Defregger oder auch zu dem aus dem Waadtland stammenden Benjamin Vautier. Doch unterlag Anker nie einer anekdotisch verklärten, romantisch-wehmütigen Sentimentalität. Auch gibt es Bezüge zu zeitgenössischen französischen Künstlern (Jules Breton, François Bonvin u. a.), insbesondere hinsichtlich der Bildmotive. In Gustave Courbet mag er ebenfalls einen Wesensverwandten erkannt haben, aber im Unterschied zu dem damals weithin bekannten Begräbnis von Ornans (1850) verzichtete Anker in seinem Kinderbegräbnis (1863, Aargauer Kunsthaus Aarau) auf schwermütige Feierlichkeit und Endzeitstimmung; das Sterben, das ihm seit dem frühen Tod seiner Mutter, seines Bruders und seiner Schwester vertraut war, erscheint vielmehr als ein natürliches Ereignis im Zeichen der Versöhnlichkeit.
Während 30 Jahren verbrachte Anker die Wintermonate jeweils in Paris, den Sommer über weilte er in Ins. Mit psychologischer Schärfe und Empfindsamkeit hielt er das Charakteristische des Dorflebens zunächst in Zeichnungen, anschliessend in gemalten Einzel- und Gruppenbildnissen fest. Oft ist die Farbgebung von toniger Stofflichkeit, und der Gegensatz zwischen dunkler Grundierung und warmem Licht lässt die Figuren und Gegenstände deutlich hervortreten. Seine Hauptthemen umfassen kindliches Spiel und Schulbesuch, Lesen und Lernen sowie häusliche Beschäftigungen wie Stricken und Weben. Stets stand das Interesse am Menschen im Vordergrund. Zu seinen liebsten Modellen gehörten die eigenen Kinder. Dieselbe Zuwendung erfuhren aber auch die Inser. Ankers Augenmerk galt den Jugendlichen ebenso wie den Alten im Dorf, den undramatischen Momenten aus dem hoffnungsvollen Beginn einerseits und dem von Erfahrung geprägten Lebensende anderseits.
Bildnisaufträge – zumeist Dreiviertelporträts vor einheitlich-neutralem Hintergrund – hat Anker vorwiegend um des Einkommens willen entgegengenommen. Die Mehrzahl seiner Porträts sind typisierte Bildnisse, die als unspektakuläre Zustandsprotokolle das unbeschwerte Zusammenleben unterschiedlicher Generationen wiedergeben. Sie dokumentieren den Alltag, der weder beschönigt noch beklagt wird. Anker mied grelle und heftige Töne; sowohl die kritische Sicht eines Daumier und Courbet wie auch die religiöse Überhöhung der Mühsal der ausgebeuteten Landbevölkerung eines Jean-François Millet lagen ihm fern. Er besass zweifelsohne ein soziales Verantwortungsbewusstsein, seine Menschen bewahren ungeschmälerte Würde; doch Ankers Wirklichkeitswiedergabe und idealistisch geprägte Weltsicht basieren auf einer positiven, christlichen Grundhaltung, die nichts in Frage stellt, auch dann nicht, wenn er zuweilen sozial brisante Szenen – wie etwa Der Wucherer (1883), Der Quacksalber (1879) oder Der Geltstag (1891) – zur Darstellung bringt.
Einen wichtigen Teil in Ankers Œuvre nimmt das Stilleben ein. In über 30 Gemälden wandte er sich dieser Bildgattung zu, wobei sich zwei unterschiedliche Gruppen erkennen lassen: einerseits der mit Grundnahrungsmitteln gedeckte ländliche Tisch, anderseits jener eines bürgerlichen Milieus. Die gegensätzlichen Lebensweisen werden zu Bild gebracht, ohne indes bäurischen Alltag und gediegenes Bürgertum einer Wertung zu unterziehen. Die Gegenstände spiegeln in ihrer sinnlich fassbaren materiellen Beschaffenheit Ankers Vision einer harmonisch-stabilen Weltordnung, wie er sie auch in den Genreszenen und Genrebildnissen zum Ausdruck gebracht hat. Der kompositionelle Aufbau ist genau durchdacht und ohne schmückendes Beiwerk. In ihrem Realismus und ihrer Schlichtheit stehen Ankers Stilleben in der Tradition von Jean-Baptiste Chardin, der den wesentlichsten Beitrag zur Autonomie des Stillebens in der Moderne geleistet hatte.
Durch vorbereitende Aquarelle und durchgepauste Skizzen entfaltete sich seine Sicherheit als Zeichner. Zu den zeichnerischen Auftragsarbeiten gehörten auch die Illustrationen für eine Jeremias-Gotthelf-Ausgabe, für die er das Emmental bereiste und unterwegs Landschaftsskizzen anfertigte. Die Landschaft ist aber innerhalb von Ankers Ölmalerei lediglich als Hintergrund zu seinen Mehrfigurenbildern von Belang, als autonome Bildgattung findet sie sich nicht. Hingegen hat er sich in Aquarellen erstaunlich frei der Landschaftsdarstellung zugewandt. Oft konnte er dabei auf seine kleinen Notizhefte zurückgreifen, die er auf Reisen stets mit sich trug. Nach seiner Rückkehr nach Ins 1890 häuften sich die Bestellungen für Aquarelle. Diese Technik übte er vor allem während des letzten Lebensjahrzehnts aus, als er wegen des Schlaganfalls grosse Leinwandarbeiten aufgeben musste. Mit unermüdlicher Schaffenskraft schuf er mehrere hundert Aquarelle mit den einstigen beliebten Motiven wie auch zahlreiche Bildnisse aus dem bäuerlichen Alltag, wobei der grossen Nachfrage wegen Wiederholungen unvermeidlich waren.
Nach der Familiengründung musste Anker eine zusätzliche Einnahmequelle erschliessen. In Zusammenarbeit mit dem elsässischen Fayencefabrikanten Théodore Deck versah er ab 1866 über 500 Wandteller und -platten mit Bildnissen, Dreiviertelfiguren aus Historie und Mythologie oder mit seinen bewährten Genremotiven. Sein künstlerisches Ziel hatte Anker schon früh erreicht, und er setzte seinen einmal eingeschlagenen Weg konsequent fort. Dies ist wohl mit ein Grund dafür, dass seine Kunst keine mutigen Schritte in ungewohnte Richtungen aufweist. Seine Motivwelt strahlt Versöhnlichkeit aus und basiert auf einem Demokratieverständnis, das ein unverdorbenes, ruhiges Weltgefüge verheisst. Diese traditionelle Thematik setzte Anker jedoch mit grosser malerischer Qualität um. Alltäglichen Szenen vermochte er durch Subtilität in Farbe und Lichtführung Glanz zu verleihen. Aus seinen zahlreichen Briefen an Freunde und Familie wie auch aus Notizen geht zudem hervor, dass seine Kunst genährt wurde von einer Aufgeschlossenheit gegenüber der Geschichte wie der Gegenwart, und dass er im Grunde von weltoffener, über die Grenzen heimatlicher Enge hinausweisender Gesinnung war.
SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz
Therese Bhattacharya-Stettler, 2004, aktualisiert 2021, in: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, https://www.sikart.ch/kuenstlerinnen.aspx?id=4000009
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